2013 habe ich die Familiengeschichte "GRENZWEGE" abgeschlossen, an der ich fünf Jahre gearbeitet habe.

 Sie beginnt 1298 mit vielen Geschichten, Dokumenten und Briefen und endet im Jahr 2003 mit dem Tod meiner Mutter.

 

  • 20180322_165022 (2)

Vorwort zur Familiengeschichte


„Vergesst nicht euer Leben in Heiterkeit zu leben"
Dogen Zenji


Mit dieser Familiengeschichte tauche ich ein in eine vergangene Zeit, lasse sie unter Zuhilfenahme von erinnerten Erzählungen, sowie auf Dachböden und in Nachlässen gefundenen Briefen und Dokumenten von Verwandten und aus dem „Meuteshaus“ und aus verschiedenen Archiven herausgelesenen Urkunden wieder auferstehen.
Dazu gesellen sich eigene Gedanken und Deutungen.
Angefangen hat alles mit Erzählungen meiner Mutter Gertrud Hayo geb. Reicherts aus ihrer Kindheit und Jungend und Erzählungen von Erzählungen ihrer Mutter, Eva Reicherts geb. Meutes aus Rommersheim.
Eigene Erinnerungen an die wunderschönen Ferien in diesem Bauerndorf und vielen weiteren Geschichten aus der inzwischen großen Verwandtschaft ergänzen die Erzählungen.
Die aus der Vergangenheit auftauchenden Personen zeigen sich mehr oder weniger bereitwillig, einige lächeln ob des Bemühens sie verstehen zu wollen, andere unterstützen bereitwillig das Vorhaben durch Dokumente und Zeugnisse, nicht wenige wollen eingeladen werden in den Kreis der Geschichte und Geschichten und gewürdigt werden in
ihrem So-Gewesen-Sein.
Falsche Fragen darf ich nicht stellen Sie werden überhört wie mir scheint und die auftauchenden Ereignisse und Personen entziehen sich der Begegnung. Ich kann mich ihnen nähern, nicht mehr. Ihr Gelächter und ihre Warnung vor Missdeutung und deren ungewissen
Konsequenzen drängen sich mir auf.
SIE bleiben ihrer Vergangenheit treu, haben sich in ihr eingerichtet und wahrscheinlich mit ihr versöhnt.
Und ich? Was suche ich, was lässt mich in ihre zeitlose Ewigkeit eindringen?
Der Tod hat die vielen Generationen, denen ich begegne der
Vergangenheit auf ewig zugesprochen. Ich stehe noch in
Wechselbeziehung zu ihr. Sie dringt ungefragt in meine Gegenwart, gibt ihr oft Sinn und Bedeutung, ist manches Mal Belastung, färbt sie sozusagen ein. Die Geschichten aus der familiären, sozialen und zeitgeschichtlichen Vergangenheit haben Einfluss auf unsere Gegenwart und Zukunft durch die Wertung der Ereignisse, die unsere Selbstbewertung mitbestimmt.
Vergangenheit sehen und verstehen legt uns in Verbindung mit ihr fest und gibt uns gleichermaßen Freiheit, erweitert Denkmöglichkeiten und Verhalten, was in der Gegenwart und der Zukunft neu erprobt werden kann.
Diese Überlegungen geben mir den Mut genauer hinzuschauen und wecken meine Neugier für diese Familiengeschichte.
Francis Georges Steiner, Prof. für vergl. Literaturwissenschaft, Philosoph und Kulturkritiker in „Blaubarts Burg“: „Nicht die buchstäbliche Vergangenheit regiert uns – es wäre denn möglicherweise im biologischen Sinn. Vielmehr sind es die Vorstellungen von solcher Vergangenheit. Sie aber sind oftmals so komplex strukturiert und so selektiv wie die Mythen. Bilder und symbolhafte Vorstellungen der Vergangenheit sind unserem Empfindungsvermögen nahezu in der Art genetischer Information aufgeprägt. Jedes neue Zeitalter der Geschichte bespiegelt sich in Bildern und der weiterwirkenden Mythologie der eigenen Vergangenheit. . .“
Ich bin den auftretenden Personen dankbar, da sie mein Leben durch die Berührung mit ihrer Geschichte bereichern.
Die erzählten Ereignisse und Geschichten sind durch meine Wahrnehmung ausgesucht und interpretiert.
Meine Aufgabe besteht darin, den wahren und frei erzählten Geschichten zu folgen, sie im Einverständnis mit den auftretenden Personen zu beschreiben und den Ahnen respektvoll zu begegnen.
Ich gehe jetzt mit den Personen und Geschichten in die Zeit zurück, aus der sie herausgefallen sind und in der sie auf ewig festgehalten sind.
Mit meinem Tod gehen die meisten dieser Geschichten verloren, wenn ich sie nicht niederschreibe.


Die  Übersicht des Meutes-Clan bis zur französichen Revolution, durch verschiedene Dokumente belegt:

1298 Klas Meutes ist Edelschöffe, d.h. adeliger Herkunft

1381 Der Meuteshof ist als adeliges Gut dokumentiert bis 1589

1549 Paulus Meides ungefähr geboren (Meides ist Mundart für Meutes)

1571 Peter Meides, sein Sohn ungefähr geboren

1610 Paulus ca.60 Jahre errichtet ein Kreuz mit Inschrift

1631 Peter ca. 60 Jahre sagt in einem Prozess aus

1656 werden die Meides-Leute erwähnt wegen der Zehntabgabe

1666 * Godofried Meides ungefähr geboren. Er heiratet ca.1694 eine     Catharina, sie haben 5 Kinder:

1695 * Nikolaus, er ist der Hoferbe des „Meuteshof“ am „Bungert“, Maria *1696+, Maria *1697, Anna Maria *1698, Susanne *1700.

1718 heiratet Nikolaus eine Maria *1699. Sie haben 7 Kinder, von denen 3 namentlich bekannt sind:

1721 *Theodor, er übernimmt den Meuteshof, Johann *1729 und Katharina *1731, bleiben wahrscheinlich im Haus.

Theodor heiratet möglicherweise 1743 mit 22 Jahren, wen ist nicht bekannt. Ein Sohn ist bekannt:                                

1744 *Theodor, der den Hof übernimmt, 3 weitere Geschwister werden  in meiner Geschichte genannt, Susanne *1750, Michael *1754 und Peter * 1731, die jedoch nicht nachgewiesen sind.

1772  heiratet Theodor (1744-1789) die Anna Katharina geb. Schreibers (1750-1816) aus Lünebach. Sie bekommen sieben Kinder, von denen vier das Erwachsenenalter erreichen.  

 1789 stirbt Theodor mit nur 45 Jahren. Wir wissen nicht wodurch. Seine vier noch lebenden Kinder sind Anna 16, Johannes 15, Elisabeth 8 und Maria 6 Jahre. Seine Frau Anna Katharina überlebt ihn um 27 Jahre.

 

Mit den Erinnerungen der Anna Katharina an ihrem Todestag 1816 beginnt die ausführlichere Beschreibung der Familie Meutes über sechs Generationen bis zum Tod der Gertrud Hayo geb. Reicherts-Meutes, meiner Mutter.

 

So könnte es im „Meuteshaus“ im 18./19. Jhdt. gewesen sein,

 Namen und Zahlen sind überliefert

 

 

Theodor  Meutes  *31.1.1744  +16.1.1789

 und  Anna Katharina Schreibers 

*1750   +1816  aus Lünebach

heiraten 1772

 

Kinder:

Anna *19.10.1773  bleibt bis zum Tod im Haus

Johann      *25.12.1774  erbt den Hof, stirbt mit 35

Johann Mich.*29. 9.1776  stirbt mit 4 Jahren

Maria Kath. * 2.12.1778  stirbt mit 6 Monaten

Elisabeth   *30.12.1780  heiratet 1811 Peter Nober

Maria Kath. *21. 3 1783  bleibt bis zum Tod im Haus

Susanna     *13. 4.1785  stirbt am 6.1.1786, 9 Monate

 

Es ist ein kalter nasser Tag im Herbst 1816.

Anna Kath. liegt ruhig unter der mit Gänsefedern gefüllten Bettdecke, den Oberkörper etwas erhöht, gestützt auf zwei dicke Kopfkissen. Frieden ist eingekehrt, sie hat keine Schmerzen, ist nur unendlich müde. Ihr Atem geht schwer, die Augen sind geschlossen. Durch die selbst gewebten Vorhänge dringt nur spärliches Licht. Wenn sie die Augen öffnet sieht sie an der gegenüberliegenden Wand das Holzkreuz, das ihr Mann zur Geburt ihres ersten Kindes schnitzte. Es war sein Dank an Gott, dass seine Frau und das Kind lebten.

   Anna Katharina weiß, dass der Tod nahe ist und ihre Lippen beten lautlos um eine gute Sterbestunde. Die Sterbesakramente Beichte, Kommunion und „letzte Ölung“ hat sie vor zwei Tagen von Pastor Hilger erhalten.

   Sie hält schon mehrere Stunden den Rosenkranz in ihren schwachen Händen, ohne dass sie die Perlen bewegt. Es ist, als wolle sie sich in der Berührung vergewissern, dass sie noch lebt. Ihr Blick fällt jetzt auf eine bemalte Marienstatue, die auf der dunklen Kommode mit den vielen Schubfächern neben der Tür steht. An ihrem Hochzeitstag brachte ihre Mutter ihr die Statue in Tücher eingepackt aus Lünebach mit, dem Dorf in dem Anna geboren wurde und nachdem sie oftmals Heimweh hatte. Anna liebt diese schöne Statue seit ihrer Kindheit. Sie weiß aus Erzählungen der Großmutter, dass die Madonna in deren Kindertagen schon ihren besonderen Platz im Haus hatte. Seit 44 Jahren steht sie nun im „Meuteshaus“, auf dieser Kommode. Es waren viele Tränen, die sie als Kind und auch als Erwachsene vor dieser Statue weinte. Der Tod ihres Mannes Theodor vor 27 Jahren kam völlig überraschend, da seine Verletzung, die er sich beim Holzschlagen im Wald zugezogen hatte so geringfügig anmutete, dass niemand ihnen Beachtung schenkte. Als der Arzt eine Blutvergiftung feststellte war es zu spät. Eine Tragödie!

  Mit dem Tod und dem damit verbundenen Leid ist sie schon lange vertraut. Wenn ein Geschwisterkind in ihrem Elternhaus starb und die Trauer sich wie tiefe Schatten auf das Gesicht der Mutter legte lief sie zur Marienstatue und weinte und betete. 

   Aber die erste schmerzliche Trennung von dem eigenen Kind, der kleinen Maria Katharina, als diese 6 Monate nach der Geburt an einem nicht zu bändigenden Fieberhusten starb, da hatte sie das Gefühl, ein Messer schneide in ihre Brust. Maria wurde in der vom Schwiegervater kunstvoll geschnitzten Wiege, eingewickelt in einem weißen Leinentuch aufgebahrt. Zwei Kerzen brannten Tag und Nacht in der abgedunkelten kleinen Stube. Anna Katharina saß still und ohne Tränen vergießen zu können neben der Wiege bei ihrem toten Kind. Nach 3 Tagen brachten ihr Mann, der Schwiegervater und die Brüder, Maria in einem kleinen weißen Holzsarg zur Einsegnung  vors Haus und dann gefolgt von Pastor, Messdienern und der ganzen Verwandtschaft zum Friedhof hinter der Kirche. Danach war der Trauergottesdienst.

   Als dann nach einem kurzen Jahr der vierjährige Johann Michael die gleichen Beschwerden mit hohem Fieber trotz Wadenwickel und Kräutersud zeigte und nach einigen Tagen einfach einschlief und nicht wieder aufwachte, da waren ihr Schmerz und ihre Verzweiflung kaum zu ertragen. Sie wusste nicht, ob Gott und die Gottesmutter sie nicht hören konnten oder vielleicht nicht hören wollten? Anna Kath. inständige Gebete hatten ihrem Kind nicht geholfen. Und sie ist in dieser schlimmen Zeit mit Elisabeth im 6. Monat schwanger.

   Den Zweifel an Gottes Gerechtigkeit fühlte sie erneut aufsteigen, als in dem besonders kalten Januar 1786 ihr jüngstes Kind Susanna mit 9 Monaten alle Nahrung verweigerte, schrie, sich in Krämpfen aufbäumte und in wenigen Tagen verstarb. Anna Kath. hätte ihren anderen Kindern diese traurige Erfahrung gerne erspart.

 Tochter Anna war inzwischen 12 Jahre und ein ruhiges großes Mädchen mit langen hellbraunen Zöpfen und einem schönen Gesicht.  Sie hatte bereits mit 5 und 7 Jahren den Tod von zwei Geschwistern erlebt und sich immer wieder neu erschrocken über dieses für sie ungerechte und unverständliche Geschehen. Ihre Trauer teilte sie dieses Mal mit ihrem Bruder Johannes 11 und den beiden Schwestern Elisabeth 5 und der kleinen Maria Katharina 2, indem sie so oft es möglich war zur Marienstatue gingen und laut beteten, dass Susanna ein Engel im Himmel sein möge und auf sie herabschaue und die Eltern trösten möge. Anna Kath. betrachtet jetzt die Marienstatue.

   Enkel Theodor, der Sohn von Johannes wird die schöne Marienstatue erben, so bleibt sie im Haus, was Anna sehr wichtig ist. Vor der Statue stehen ein kleines Kupfergefäß mit Taufwasser und einem Buchsbaumzweig. Mit diesem geweihten Wasser segnete Anna ihre Familie jeden Abend nach dem Gebet und vor dem Zubettgehen.

   Einmal im Jahr, in der Frühe des Karsamstags wird Wasser mit dem Segen des Pastors zu Weihwasser, das der Küster als „Tauf“ in jedes Haus bringt und dafür „Taufeier“ erhält. Sie lächelt wenn sie sich daran erinnert, dass sie ihm 2 manchmal 3 Eier mehr heimlich zusteckte.

   Sie denkt gerne zurück an eine schöne Gewohnheit mit ihren Kindern als diese noch klein  waren, die ihr viel Trost schenkte:

Abends nach dem gemeinsamen Abendgebet in der Stube und bevor die Kinder einschliefen nach dem Segen mit dem geweihten Wasser sangen sie vor der Marienstatue:

Segne du Maria, segne mich dein Kind…  und        

Maria breit den Mantel aus, mach Schirm und Schild für uns daraus, lass uns darunter sicher stehn, bis alle Stürm vorüber gehen, Patronin voller Güte uns alle Zeit behüte.

Was sie auch gerne sangen war Meerstern ich dich grüße, ooh  Maria hilf, Gottesmutter süße, ooh… oder auch  Maria zu lieben ist allzeit mein Sinn, in Freuden und Leiden ihr Diener ich bin, mein Herz oh Maria brennt ewig zu Dir, in Liebe und Treue du himmliche Zier.

(Die Marienverehrung vererbte sich über alle Generationen, ich singe heute noch gerne Marienlieder).

 

   Anna Kath. schließt immer wieder die Augen und sieht ihr Leben an sich vorüberziehen. Ihr Sohn Johannes ist vor sieben Jahren an der Krankheit, die er von Ungarn mitbrachte mit nur 35 Jahren gestorben. Das war nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes vor 27 Jahren – kann sie sich überhaupt noch an ihn erinnern -  der schlimmste Tag in ihrem Leben. Eine tiefe Traurigkeit legt sich auf ihr Herz. Anna schaut auf und Tränen laufen ihr übers Gesicht, auch Tränen der Dankbarkeit mischen sich darunter, obwohl Gott sie oft prüfte in ihrem Glauben. Vier Kinder und ihr Mann sterben vor ihr.

   Jede kleine Erkältung konnte damals für die Kinder tödlich sein, da es keine Antibiotika gab und die hygienischen und medizinischen Verhältnisse bei der Geburt und später für die Kleinkinder nicht gut waren. Viele Frauen starben im Kindbett. Das Buch "Die Kunst zu leben" vom Heidelberger Medizinhistoriker Heinrich Schipperges, erschienen 1796, macht eine Aufstellung über die Krankheiten aus dieser Zeit:


„Folgende kurze Übersicht, die aus einer Menge Mortalitätstabellen zusammengezogen ist, wird am deutlichsten zeigen, wie ungeheuer der Verlust ist, den die Menschheit jetzt durch Krankheiten erleidet. Gesetzt, es werden jetzt 1000 Menschen geboren, so sterben davon 24 gleich in der Geburt selbst; das Geschäft des Zahnens nimmt ihrer 50 mit; Konvulsionen und andere Kinderkrankheiten in den restlichen 2 Jahren 277; die Blattern, die bekanntlich zum allerwenigsten den 10. Menschen töten, reiben ihrer 80 bis 90 auf, die Masern 10. Sind es Weibspersonen, so sterben davon 8 im Kindbett. Schwindsucht, Auszehrung und Brusterkrankungen (in England wenigstens) töten 190. Andere hitzige Fieber 150, Schlagflüsse 12, die Wassersucht 41. Also kann man von 1000 Menschen nur 78 annehmen, welche am Alter, d.h. eines natürlichen Todes sterben, denn auch da wird der größere Teil noch durch zufällige Ursachen weggerafft. Genug, es ergibt sich hieraus, daß immer 9/10 vor der Zeit und durch Zufall umkommen...“

 

   Anna Katharina weiß vielleicht nichts von diesem Bericht, aber sie wusste um die Gefahren für Kinder. Ihre einzige Zuflucht war die Religion, das Gebet zur Gottesmutter.

   Schulbildung ihrer Kinder war für Theodor und Anna Katharina wichtig.

Die Notwendigkeit der schulischen Bildung besonders der ländlichen Kinder und Jugendlichen wird von dem preußischen Minister Rochow (Chronik eines dt. Staates) 1776 bereits formuliert. Dass die Bauern, die "den zahlreichsten, aber verachtetesten Teil unserer Mitmenschen" ausmachten, mit und ohne Schule gleich dumm blieben, konnte Rochow in seiner Umgebung beobachten.

"Ich lebe unter Landleuten. Mich jammerts des Volks", schrieb er. "Neben den Mühseligkeiten ihres Standes werden sie von der schweren Last ihrer Vorurteile bedrückt. Ihre Unwissenheit in den nötigsten Kenntnissen beraubt sie der Vorteile und Ersetzungen, welche die für alle Stände gnädigen Vorsehungen Gottes auch dem Ihrigen gegönnt hat. Sie wissen weder das, was sie haben, gut zu nutzen, noch das, was sie nicht haben können, froh zu entbehren, Sie sind weder mit Gott noch mit der Obrigkeit zufrieden."

 

   Zum einen störte Rochow, dass die Bauern in ihren landwirtschaftlichen Methoden die ewigen Dilettanten blieben, weil sie sich nicht fortbildeten und an neuen Erkenntnissen schon aufgrund ihres Analphabetentums keinen Anteil hatten. Zum anderen beunruhigte ihn die mit der Unbildung einhergehende gesellschaftliche Verwahrlosung. Die Schule, in der bevorzugt mit Büchern religiösen Inhalts hantiert wurde, war nicht nur ein bildungsfeindlicher, sondern auch ein gottloser Ort. Die Religion der Landleute war "meistenteils der verderblichste Fatalismus", und es lag in Wahrheit die "ganze vortreffliche Sittenlehre Jesu Christi und seiner Apostel ganz außerhalb der Sphäre der Ausübung".

 
   Ein Satz Mirabeaus: "Ohne Aufklärung gibt's keine Moral." Ein fehlender Gemeinsinn beeinträchtigte jedoch nicht nur die dörfliche Gemeinschaft, sondern auch den Zusammenhalt des Ständestaates. Von den unteren Schichten war eine Solidarität mit den Interessen der Gutsbesitzer nicht zu erwarten. Rochow zog daraus für sich die Konsequenz, dass die Gutsherren in dieser Situation eine Vorleistung zu erbringen habe. Er übernahm deshalb nicht nur die Planung und Ausführung, sondern auch die Finanzierung des Schulprojekts, das den Bau und die Einrichtung der Schule, die Ausbildung und Besoldung der Lehrer, das Verfassen und Drucken der Schulbücher, das Ausarbeiten einer guten Schulordnung und die Konzeption geeigneter Unterrichtsmethoden umfasste. Den Standpunkt, dass der Grundherr für die Kosten aufzukommen habe, hat er immer wieder verteidigt:
"Kostenfrei muß der Unterricht sein: a) auf dem platten Lande, wo wahre oder ohne harte Mittel nicht leicht erforschliche Armut den Besuch der Schulen zu allen Jahreszeiten hindert, b) wo die Eltern noch zu unwissend sind, um den Nutzen des ununterbrochenen Schulbesuchs für ihre Kinder zu begreifen, c) für den Staat, der durch gute Schulen bald seine Bürger beglücken will." Tatsächlich wollte Rochow "durch den besseren Unterrichte ein zukünftiges Geschlecht besserer Menschen" bilden, und sah die Schule als "Hilfeleistung dazu, daß an allen Gliedern der Gesellschaft die Erkenntnis der für sie nützlichen Wahrheit früh genug möglich werde, oder kürzer: die zureichende Anweisung zum gemeinnützigen Gebrauch aller Seelenkräfte". Es dauerte lange, bis sich diese  Ideen und Forderungen durchsetzen konnten.

 

   Mit dem Einfall einiger Sonnenstrahlen in den kleinen Schlafraum tauchen Bilder und Gefühle in Anna Katharina auf, die an glücklichere Tage erinnern und die ihre Trauer für einige Momente vertreiben. Sie erzählt uns aus dieser Zeit:

 

    Ich tanze als junge Frau am Kirchweihfest in meinem Heimatdorf Lünebach mit Theodor , der mir sehr gut gefällt, aber meine Eltern haben noch nicht mit seinem Vater gesprochen und wir dürfen unsere Zuneigung nicht zu offen zeigen. Theodor ist 6 Jahre älter als ich, also bereits 28 und er will mich unbedingt heiraten. Seine Mutter ist seit 11 Jahren tot. Sie starb  mit 39 Jahren bei der Geburt des fünften Kindes, das auch nicht überlebte. Ich erinnere mich noch gut, als ich das erste Mal 1771 nach Rommersheim in das reiche „Meuteshaus“ kam mit meinen Eltern. Der Vater Theodor  war 51 Jahre und ein großer freundlicher Mann mit blauen Augen und schwarzem Haar. Er war Sendschöffe und ein angesehener Mann im Dorf.  Sein Bruder Johann, der der Pate unseres Johannes wurde ist 43 Jahre und seine Schwester Katharina 41 Jahre, die Patin unserer Maria Katharina.  Ich komme in eine große reiche Familie, die adeliger Herkunft ist und fühle mich erst mal schüchtern. Aber ich glaube, sie mögen mich alle ganz gerne. Die Schwester meines Mannes, Suse, ist so alt wie ich und sehr lustig. Die Brüder sind Michael 18 und Peter 16 Jahre. Wir lachen viel und ich glaube, Theo  ist ein wenig eifersüchtig. Aber er lacht mit uns.  Michael arbeitet mit viel Freude mit seinem Vater in der Schmiede am Haus, die zum Hof gehört und Peter ist seit seiner Kindheit ein wahrer Künstler im Schnitzen, ebenso wie sein verstorbener Großvater Nikolaus. Der baute zur Geburt meines Mannes 1744 einen wunderschön geschnitzten Schrank, der in der großen Stube steht und dem ältesten Kind weitervererbt wird.  Außerdem lebt noch  Susanne, die  jüngste Schwester des Großvaters Nikolaus im Haus. Sie  ist eine verschlossene etwas griesgrämige alte Jungfer, geboren 1700. Sie lacht fast nie, ist aber eine Meisterin im Essen zubereiten, im Brot und Kuchen backen, von der ich viel lerne. Ich lobe sie sehr und gelegentlich huscht ein zartes Lächeln über ihren fast zahnlosen Mund. Als mein erstes Kind Anna Kath. geboren wird sehe ich zum ersten Mal Freude in ihrem Gesicht und sie ist die Großmutter für alle meine Kinder bis zu ihrem Tod 1781. Sie trauerte sehr beim Tod meiner Kinder Johann Michael und Maria Katharina.  Mich hat der Herrgott vergessen und nimmt sich stattdessen deine Kinder, waren ihre traurigen Worte. Meine beiden Ältesten Anna und Johannes  gehen 1780 fleißig in die Winterschule, im Sommer bleiben alle Kinder zu Hause und helfen. Beide können schließlich lesen und schreiben, rechnen kann Johannes sehr gut. Mein Mann lacht und neckt sich mit den Kindern abends vor dem gemeinsamen Abendgebet  und schaut sich an, was sie in der Schule gelernt haben. Die kleine Elisabeth plappert den großen vieles nach und lernt leicht. Elisabeth  und  die kleine Maria besuchen später zusätzlich die Sommerschule, die ab 1790 eingeführt wird. Ich freue mich, dass meine Kinder gut lernen.

   1784 begann die Trennung zwischen Schule und Kirche. Der Frühmesser, ein Hilfspriester, der den Dorfpfarrer unterstützte, da jeder Priester nur ein Mal am Tag die Messe lesen durfte und Sonntags wurden 2 Messen gelesen, war Lehrer und Küster. Die Kompetenzen über alle schulischen Belange lagen bei Pastor und Sendschöffen. Als 1785 ein neuer weltlicher, im Lehrerseminar Koblenz ausgebildeter Lehrer, ein 16 jähriger Rommersheimer, den Unterricht übernehmen sollte kam es zum Schulstreik. Unser Vorfahre Theodor, der Schwiegervater von Anna Katharina war zu dieser Zeit Sendschöffe. Pastor und Sendschöffen waren empört über diesen Vorgang, mussten aber den Behörden Folge leisten.

Die alte „Möhn“ sitzt am Spinnrocken, zu ihren Füßen der kleine Johannes.

Er kann sie alles fragen und sie ist geduldig und beantwortet ihm Fragen über die große Welt, die sie nie kennengelernt hat, aber aus der Bibel kennt sie viele Geschichten. Obwohl sie wenig lesen und schreiben kann hält sie die Kinder zum Lernen an, singt und betet mit ihnen und folgt der reichen Phantasiewelt. „Wenn ich groß bin reise ich in die weite Welt und verkaufe den Leuten Felle der Schafe, das was du strickst und Bier und Stoffe“, verkündet Johannes mit 6 Jahren.

Diesen Traum hat er sich erfüllt, indem  er später bis nach Ungarn reist, was seine alte „Möhne“ aber leider nicht mehr erlebt.

 

  Seine Mutter Anna Katharina schaut gerne in ihr vergangenes Leben, das sich dem Ende zuneigt:

 

1796 heiratet mein Sohn Johannes die Lehn. Meine Schwiegertochter kommt aus dem  „Pintenhaus“.  Die reiche Familie hat seit 1673 die Mühle des Dorfes. Die Hochzeit ist ein großes Fest mit Musik und Tanz und über 3 Tage werden alle von uns bewirtet, denn die Meutesfamilie und die Pintenfamilie sind die größten Höfe im Dorf. Lehn ist zwar 6 Jahre älter als Johannes, aber eine gute und fleißige Frau, mit der ich auch lachen und singen konnte, was die kleine Maria, meine Enkelin, zum tanzen brachte, auch wenn sie noch nicht sicher auf ihren Füßchen stand. Die kleine Maria, sie war ein Sonnenschein, ich sehe sie noch in ihrem weißen Totenhemdchen mit Spitze in dem kleinen weißen Sarg in der Stube aufgebahrt. Als Maria mit 2 Jahren starb war der 5 jährige Bruder Theodor, mein Enkel, entsetzt und sehr besorgt, dass auch er sterben könnte. Lehn konnte danach nicht mehr singen. Sie bekamen keine weiteren Kinder.

Ja, und dann das Abenteuer mit Ungarn, was war  mein Sohn Johannes doch mutig! Und die Freude über seine Rückkehr aus Ungarn nach einem ungewissen Jahr! Er war 1808 in einer Kutsche von 2 Pferden gezogen, mit viel wertvollem Leder seiner Schafe und Ochsen, das er in der Lederwerkstatt in Prüm gerben ließ bis nach Ungarn unterwegs, da Leder sich gut verkaufte. Aber das Glück war ihm nicht wohl gesonnen. Es ist viel gestohlen worden, wie er berichtete, und vielleicht hatte er auch einfach nur Pech. Johannes hatte nur noch 1 Pferd und  Schulden, als er von seiner abenteuerlichen Reise zurückkam. Aber wir dankten Gott, dass er wieder da war. Niemand konnte bei seiner Heimkehr wissen, dass er sich von diesem  üblen Husten, der auf die Lunge überging nicht mehr erholen würde. Sein Tod mit nur 35 Jahren lag in Gottes Hand. Sein Sohn, mein Enkel Theodor war gerade 14 geworden.  Seine Frau Lehn ging nach einem Jahr der Trauer zurück in ihr Elternhaus und heiratete 2 Jahre danach erneut. Sie war erst 41 und ich konnte sie gut verstehen. Aber sie hatte kein Glück mit dem zweiten Mann. Er verschwendete viel Geld durch Handel mit Pferden und trank  zu viel Alkohol.

   Theodor blieb selbstverständlich  im „Meuteshaus“, da er den Hof nach meinem Tod übernehmen wird.

   Der Schock über Johannes Tod saß uns allen noch lange im Herzen, aber das Leben musste weiter gehen, die Arbeit getan werden und Vertrauen in Gottes Wege erhalten bleiben. Die Nachbarn und  die Verwandten aus dem „Noberhaus“ und „Pintenhaus“ halfen uns in dieser schweren Zeit viel bei der Arbeit.

   Die Trauer kann ich noch nach all den Jahren spüren.

Vor 5 Jahren heiratete meine Tochter Elisabeth den liebenswürdigen ältesten Bauernsohn aus dem „Noberhaus“. Es ist eine gute Familie. Elisabeth konnte eine gute Aussteuer mitnehmen.  Jetzt hat sie schon 3 Kinder, die mich auch oft besuchen. Ich wünsche ihr viel Glück,  Gottes Segen und Zufriedenheit in ihrem Leben. Vielleicht kann ich sie noch sehen bevor ich sterbe.

    Jetzt höre ich Maria, meine jüngste und liebste Tochter die Stiegen hochkommen. Sie bringt mir eine Hühnersuppe, aber ich kann nichts zu mir nehmen. Ich sehe Marias Besorgnis und Erschöpfung, habe aber keine Kraft sie zu trösten. Wir beten ein wenig zusammen. Sie weiß dass ich sterben muss. Dass sie sich die Zeit nimmt und sich zu mir setzt tut mir gut. Jetzt erzählt sie mir, wohl um mich zu trösten und meine Sorgen um den Hof zu verscheuchen, von dem guten Verkauf der beiden Rinder auf dem Schönecker Viehmarkt gestern und wie Theodor  mit seinen 20 Jahren einen guten Preis aushandelte, dass die jungen Ferkel alle gut gedeihen, dass der Honigvorat den Winter über hält, dass Anna heute Abend die Leinentücher fertig webt und dass auch die Wolle von Tante Suse schon versponnen sei und dass sie soeben den Backofen angeheizt habe um die Brotlaibe für diese Woche zu backen, dass der neue Zweitknecht und die Zweitmagd sehr fleißige und gute Leut sind, dass die Stallhasen schon wiederJunge haben….. ich kann ihr jetzt nicht mehr gut folgen, möchte schlafen, nur noch schlafen…

 

   Anna lächelt schwach mit geschlossenen Augen und drückt ihrer Tochter die Hand. Maria verlässt mit Tränen in den Augen leise das Zimmer und weiß, ihre Mutter ist mit den hl. Sterbesakramenten versehen und dem Himmel nah.

 

Anna Katharina schläft jetzt ein um nicht mehr aufzuwachen.

 

   Die Tote wird für die Aufbahrung in der „jleen Stuv“ (kleine Stube) von den Nachbarsfrauen gewaschen und mit dem selbstgewebten Totenhemd angekleidet. Ihr Rosenkranz wird um die gefalteten Hände gelegt. Der Eichensarg ist von Schwager Peter vor 2 Wochen angefertigt worden.  Vier große, aus eigenem Bienenwachs gefertigte Kerzen werden angezündet, je zwei an Kopf- und Fußende, die auf hohen silbernen Kerzenständern stehen und einen süßlichen Honigduft verbreiten. Das Weihwasser in dem kleinen Kupfergefäß mit dem Buchsbaumzweig aus Annas Schlafzimmer steht am Fußende der Bahre und jeder, der zum Beten kommt segnet die Tote. Nur das Licht der Kerzen am Kopfende der Bahre flackert über das ruhige Gesicht von Anna Kath. und lässt es lebendig erscheinen. Die beiden größeren Enkelkinder mit ihrer Mutter Elisabeth, die sich von der Großmutter verabschieden wollen greifen in der halbdunklen Stube ängstlich nach der Hand ihrer Mutter, schauen lieber auf den Boden und laufen bald wieder hinaus. Drei Tage und Nächte kommen die Verwandten und Nachbarn zum Rosenkranzbeten und halten Wache bei der Toten. Die gleichaltrige Schwägerin Suse 66 trauert lange um ihre Freundin. Die beiden Schwager Michael 62 und Peter 60 schlüpfen zur Beerdigung in den gleichen schwarzen Rock, den sie sich zum Begräbnis ihres Bruders Theodor 1789 anfertigen ließen. Elisabeth, Maria und Anna, die 3 Töchter von Anna Katharina haben am Tag vor der Beerdigung alle Hände voll zu tun, das Essen für die vielen Verwandten vorzubereiten, die nach dem Begräbnis und dem Seelenamt ins Haus kommen und beköstigt werden wollen. Nachbarfrauen helfen ihnen.

   Am vierten Tag vormittags um 9.00 Uhr kommt der Pastor ins Haus, segnet die Tote, die vor dem Trauerhaus aufgebahrt ist, spricht die Totengebete. Es duftet nach Weihrauch. Männer aus der Nachbarschaft heben den Sarg auf ein von Pferden gezogenen geschmückten Leichenwagen. Die Totenglocke läutet. Alle folgen dem Pastor und den Messdienern hinter dem Leichenwagen.

   Anna Katharina Meutes geb.Schreibers wird 1816 unter großer Anteilnahme der Dorfbewohner und aller Verwandten im Familiengrab neben der Kirche, dem „Kirchhof“ mit dem Kopf nach Osten, dem aufgehenden Licht zugewandt bestattet.  Auch die Verwandten aus ihrem Elternhaus in Lünebach, die mit der Kutsche fast zwei Stunden unterwegs waren sind gekommen. Im anschließenden Seelenamt werden beim Opfergang die Totenzettel verteilt.

   Im „Meuteshaus“ sitzen alle nach der Beerdigung zusammen, auch Pastor Hilgers und der Küster und werden bis zum Abend mit Essen und Getränken bewirtet.

   Die Kinder spielen im Hof mit den Katzen und dem freundlichen Hütehund, besuchen die Stallhasen, die gerade Nachwuchs haben und sind schnell wieder vergnügt

   Dann muss das Vieh wieder versorgt werden, der Alltag kehrt zurück.

   Die Trauer über den Tod von Anna Katharina ist noch lange im „Meuteshaus“ lebendig. Der Enkel Theodor liebte seine Großmutter sehr, sie konnte so schöne Geschichten von früher erzählen, auch Märchen als er noch klein war und in ihrem Bett schlafen durfte. Sie konnte ihn trösten, wenn seine Mutter nach dem Tod der kleinen Maria verstummte und den frühen Tod seines Vaters und dessen Reise nach Ungarn verfluchte. Theodor teilt seine Trauer mit Onkel Michael, während sie in der Schmiede miteinander arbeiten, ohne dass sie darüber reden. Anna, die die Arbeit der Mutter übernimmt, ist noch fleißiger und stiller als vorher. Maria trauert, indem sie oft vor der Marienstatue niederkniet und die Mutter in ihr Abendgebet einschließt. Sie schläft künftig im Bett der Mutter. Suse, deren Rücken sich tiefer gebeugt hat, folgt ihrer Freundin 5 Jahre später in den Tod. Peter schnitzt zum Andenken an seine Schwägerin, der er immer zugetan war ein Eichenkreuz, das er in seinem Zimmer auf die Kommode stellt. Er hätte Anna Katharina gerne nach dem Tod seines Bruders Theodor geheiratet, aber er hatte es sie nie wissen lassen.