Kurzgeschichten


Erster Band: "Verdichtete Geschichten"

Welche Form gebe ich der Erfahrung mit auf den Weg, damit sie sich (nicht)verläuft?

6 Kurzgeschichten mit je einem dazugehörigen Gedicht


Zweiter Band: "Bewortete Geschichten"

Worte, Worte . . Worten trauen? Verwortete Gedanken? Umwortete Gefühle? Entwortete Bilder?

19 Kurzgeschichten


*


 Neue Kurzgeschichten:


    Weihnachtswünsche oder                           Erträumtes Glück


Frau Vieler steht am Fenster der festlich geschmückten Wohnstube.
Die Kinder werden bald zum Abendessen da sein an diesem Weihnachtstag.
Sie weiß, es ist nicht mehr das Fest der Kindheit, der Glanz dieser Zeit gleicht heute einer polierten Oberfläche. Das Heilige hat dem Profanen den Platz geräumt.
Herr Vieler schaut im Nebenraum die Abendnachrichten, die auch dieses Mal den negativen Neuigkeiten aus aller Welt in Wort und Bild Größe verleihen.
Die Dämmerung bricht herein und mit ihr Empfindungen aus Kindheitstagen, die Frau Vieler alljährlich in der Weihnachtszeit bedrängen.
Ihre Erinnerungen  gleiten in die Vergangenheit zurück zu dem warmen Kerzenlicht, dem Duft der Zimtsterne, den Liedern und zurück zu dieser Sehnsucht des Kindes nach der besseren Zukunft, die alles versprach und wenig verlässlich sich zeigte.
Sie kann sich erinnern, dass sie als  Kind wusste,  was zu ihr gehörte und was ihr  aufgezwungen wurde, die Art und Weise, wie ihr Gehorsam abverlangt wurde. Sie flüchtete  heimlich  in Sehnsuchts-Räume voller Träume und Visionen:  Alles wird in einer besseren Zukunft geschehen.
Frau Vieler erschrickt als sie feststellt, dass die aufkommende Sehnsucht  in  längst Vergangenem nistet, und dass ihre Zukunft einem leeren Raum gleicht.
Wie konnte das passieren, wann wandte sich die Sehnsucht von der hoffnungsvollen Zukunft ab?
Ihr Leben glich vielen anderen Leben. Sie war bemüht nicht allzu sehr „aus der Reihe zu tanzen.“ Das bringt nur Unruhe und Ärger mit sich, wusste ihre Mutter zu sagen.
Dabei war doch tanzen meine Leidenschaft, erinnert sie sich leise, mich vom Boden abheben, von Flügeln getragen, den Raum zum Drehen verführen, immer schneller, wilder, rund,  rund….
Mit leicht nervösen Fingern arrangiert Frau Vieler die geschmückten Tannenzweige in der chinesisch bemalten Bodenvase neu.
Wann habe ich aufgehört zu tanzen, den Raum zum Drehen zu verführen?
Da ist sie wieder, die Sehnsucht,  zurück zu dem tanzenden Kind und seinen Träumen.
Nein, nein, sie war ein braves Mädel, gehorsam und wohlerzogen,   das nur gelegentlich, heimlich, mit übermütigen Sprüngen bunte Pfade fand, sich hoffnungsvoll umsah, neugierig die Welt ausspähte,  - um bald wieder auf den gewohnten  Weg einzuschwenken, wie man es von ihr erwartete  –  und sie es irgendwann auch von sich erwartete.
Ihr Blick streift über die vertrauten Dinge im Raum, bleibt hier und da für einen Moment liegen. Die Sportberichte aus dem Nebenraum dringen nur noch leise in ihre Ohren.
Ja, sie war ihrem Mann eine treue und sorgende Ehefrau in all den Jahren. Aber die Schwere und Notwendigkeiten des Alltäglichen zogen sie manchmal nach unten, in kalte, kahle Räume, die Liebe nicht kannten.
Nur gelegentlich, heimlich, tauchte sie ein in andere Welten mit Menschen,  mit denen sie lachen konnte,  traumhafte Begegnungen in einer Welt voller Klang und Schönheit, die sie in sich aufsog wie frischen Atem.
Wann hab ich aufgehört Räume dieses Glücks zu betreten?
Sie spürt das leise Ziehen in der Brust, die Augen wollen die aufsteigenden Tränen nicht aufnehmen. Sie verharrt reglos, jetzt tief eingesunken in ihrem Sessel.
Die Fernsehdame im Nebenraum verspricht Wetterbesserung für die nächsten Tage.
Schwer löst sich Frau Vieler aus der Tiefe der Erinnerung und geht mit unsicheren Schritten zum Tisch. Sie prüft noch einmal  die strenge Anordnung der Gedecke und den kunstvoll arrangierten Weihnachtsschmuck.  Die inzwischen erwachsenen Kinder werden gleich kommen, wie es der alljährlichen Tradition entspricht, sich fröhlich plappernd an den gedeckten Tisch setzen, das Essen genießen, ihre Geschenke auspacken und sich nach wenigen gemeinsamen Tagen  wieder  für lange Zeit verabschieden.
Ja, erinnerte sich Frau Vieler, sie war eine liebevolle Mutter, die stillte, wickelte, tröstete, ermahnte, in den Schlaf wiegte  und pünktlich das Essen auf dem Tisch hatte, wenn die Kinder aus der Schule nach Hause kamen, der Mann von der Arbeit.
Nur gelegentlich, heimlich, mit vorsichtigen Schritten entfernte sie sich, um frei und ungebunden hohe Berge zu besteigen, weite Täler zu durchwandern und mit den Wildgänsen im Herbst in unbekannte Fernen zu fliegen, wie sie es sich als Kind erträumte.
Da ist sie wieder, die Sehnsucht der Vergangenheit, in der Träume und Wirklichkeit eine hoffnungsvolle Zukunft versprachen.
Und während sie in diesen Erinnerungen versinkt, taucht ein Vers aus einem Gedicht auf, das sie einmal las:


Der Blick in meine Zukunft
Zeigt lang erträumtes Leben
Glück das noch im Wünschen steckt
.


Wünsche? Was wünschst du dir, fragten die Kinder. Nichts, nichts, antwortete sie.

Habe ich meine Wünsche verloren?
Sie folgt der Spur des Gedichtes, dieser Gefühlsgedankenworte, . . .Der Blick in meine Zukunft.. . .Glück, das noch in Wünschen steckt
Ein tiefverborgenes Gefühl breitet sich aus im Raum, legt sich über alle Gegenstände dieser Wohnstube.
Sie spürt, wie sie erwacht.
Die Sehnsucht ist hier angekommen.
Jetzt tanzt sie durch den Raum, wie von Flügeln leicht getragen, ihre Augen strahlen, ihr Mund lacht.
Sehnsüchte der Vergangenheit sind zu gegenwärtigen, hellen Bildern geworden, die ihr den Mut  geben Wünsche zu formulieren.
Und sie schreibt auf diese noch leere Weihnachtswunschkarte:
Schenkt mir Räume des Glücks : ich will mit euch tanzen, mit euch lachen, und in Liebe leben.
Uns allen gemeinsam ist doch der Wunsch
- Nach Liebe und Geborgenheit
- Nach Unterstützung in der Not
- Nach Frieden in der Welt


Der Bahnmensch

  

Vor drei Monaten hatte die Deutsche Bahn, die ihn fünfzig Jahre überall hingebracht, ihn versorgt, die Wege für ihn vorgezeichnet hatte, Vincent Wulf entlassen. Sein Abschied verlief ohne besondere Huldigungen, da diese nur den Direktoren und Aufsichtsratsvorsitzenden zugestanden wurden.

Für Vincent Wulf war es, aus seinem Mund: Verlust von Heimat, der er den Rücken kehren musste, die er nie wieder bereisen durfte. Siglinde Wulf, mit der er seit mehr als 40 Jahren verheiratet war, hoffte, dass er den Verlust seiner Lokomotivheimat, wie sie respektvoll spöttelte, bald überwinden würde.

 „Dann haben wir endlich Zeit für uns“, wiederholte sie bei jeder Gelegenheit.  

Die Tage und Wochen blieben leer.

Warten hatte Siglinde Wulf in ihre täglichen Gewohnheiten übernommen, seit die Kinder ihre eigenen Wege fanden, das Warten einer unterforderten, gestressten und frustrierten Ehefrau, nach vierzig Ehejahren ohne Höhepunkte, die sie sich, bis vor kurzem, nicht mal vorstellen konnte, weder im Alltag, noch im Bett.

Sie las jetzt in „ Reisen in alle Welt“, während er, wie früher, Dienstzeiten der kommenden Tage und Wochen, jetzt die der Kollegen, notierte. Sie legte die bunten Hefte jeden Abend auf seinen Schreibtisch. Er erwähnte sie mit keinem Wort, schob sie zur Seite um den eigenen Notizen Platz zu schaffen. 

Wenn er ihr wieder und wieder erklärte, dass sie sich nicht vorstellen könne, was es für einen Mann bedeute gehen zu müssen, vertrieben zu werden, seine Gewohnheiten ändern zu müssen, zum alten Eisen zu gehören, das dem Rost ausgesetzt niemand mehr braucht.

 „Deine Heimat ist hier bei mir“, antwortete sie gereizt.

Siglinde Wulf hatte sich schon vor seiner Pensionierung vorgenommen, ihm einige Aufgaben zu übertragen, sei es im Haushalt die Wäsche in die Waschmaschine zu stopfen, den Keller neu zu streichen, im Garten die wilden Rosen zu stutzen, es gab ja so vieles, was ihr einfiel, dem er gerne, wie er sagte, Zeit widmen würde, wenn, ja wenn er mal wieder Zeit hätte.

Vincent Wulf ließ es nicht gelten, dass seine Frau Ideen sammelte, wie er seine sich in die Zukunft hineinziehenden Wochen, Monate, Jahre gestalten könnte, Zeit, die sich aus seiner Sicht wie eine endlose Schnur von dem leer gewordenen Schreibtisch, dem aufgeräumten Ehebett, der sauber gespülten Kaffeetasse in eine nutzlose, unsichtbare Zukunft schlängelte.

Reiseideen, nicht mit dem Zug unterwegs zu sein, verstand er als Verrat ihrerseits. Der Zorn, der hinter seinen Augenlidern schwoll, ihm den Mund austrocknete, die Finger in die Handballen drückte, bis sie weiß waren, fand keine Worte. 

Als Siglinde Wulf beim Abendessen den Fernseher anschaltete und sagte, dass bald das interessante Berufe raten komme, das sei doch lustig und da könne man doch so seltene Leute wie Kriminalschriftsteller oder Ökotrophologen oder vielleicht sogar Leihmütter kennenlernen. Sie lachte. Er schwieg.

„Und danach kommt die Dokumentation über Kolumbien, wo Doris , stell dir vor, hinflog und dann nicht mehr zurückkam, sie hat dort einen Mann getroffen, einen Kolumbianer und ihn geheiratet, erinnerst du dich? Ich telefoniere gelegentlich mit ihr. Ob er was mit Drogen zu tun hat, weiß ich nicht. Aber sie haben Geld und leben immer noch glücklich nach so vielen Jahren!“ Sie seufzte.

Wenn sie doch endlich still wäre, dachte er immer häufiger.

Sie sprach jetzt mit besorgter Miene von Jan dem Sohn, (in seinen Augen ein Versager, schon in der Schule) der zum zweiten Mal in der Backstube um drei Uhr in der Nacht zum Arbeiten nicht erschienen war, ohne dem Chef Bescheid zu sagen. Der habe ihm gedroht zu kündigen, wenn das nochmal vorkäme, aber der könnte sich das nicht leisten bei diesen Arbeitszeiten und der schlechten Bezahlung, habe der Sohn am Telefon geschimpft. „Jan ist ja immer müde und kann sich nicht genug um sein Kind kümmern, das von dieser Frau nur verwöhnt und verhätschelt wird, die immer einen anderen Förderkurs für die Kleine bucht und was das alles kostet.  Warum musste er gerade diese Frau heiraten, die so fortschrittlich tut, da ist doch nichts dahinter, er hätte doch die Ingrid von der Schiffergasse haben können, sie hat sich ja lange genug um ihn bemüht. Meinst du nicht auch?“

Vincent Wulf schwieg beharrlich weiter, als seien er und sie nicht anwesend, als würde ihn das alles nicht mehr betreffen, als der vor ihm auf dem Teller mit dem Rosenmuster liegende Toast, den er mit Butter sorgfältig bestrich. Sein Blick blieb auf dem wieder zu dunkel geratenen Rand für einen Moment liegen, bevor er eine Scheibe Käse passend zurechtschnitt, darauf legte, die Finger kurz ableckte, den Toast viertelte und das erste Stück in den Mund schob, während sie Grüße von der Tochter bestellte.

„Sie hat angerufen und gefragt, ob sie den kleinen Thomas am Wochenende bringen kann, sie und ihr Mann, (in seinen Augen ein kompletter Nichtsnutz, Ober in einer Bar, – Klitsche -  nannte er es) Sie sind zu Freunden eingeladen.

Und der kleine Thomas kann da nicht mit, weil die beiden großen Löwenhunde im Haus Kinder nicht ausstehen können“.

Wenn sie doch endlich still wäre, seufzte er.

Sein mit der vergehenden Zeit verbundenes Schweigen umfasste beider Einsamkeit, die sie seit vielen Jahren kannten und für den Rest des Abends verstummen ließen.

Als Siglinde Wulf die Bettdecken im großen Doppel- Eichenbett zurückgeschlagen hatte, ein am Kopf und Fußende reich verziertes Erbstück ihrer Eltern,und die Nachttischlampen, die ein warmes angenehmes Licht verströmten, angeknipst hatte, das Glas Wasser, das er in der Nacht trank, für ihn bereit gestellt hatte, wartete sie, wie immer, dass ihr Mann mit ihr in dieses Monstrum mit den inzwischen durchgelegenen Matratzen einsteigen würde. Die Zeit des Wartens nutzte sie, wie jeden Abend auch heute zur Pflege ihrer müden Haut. Der Frau im Spiegel lächelte sie an diesem Abend jedoch nicht zu: Nach einem intensiven Blickkontakt der beiden Frauen sagte Siglinde Wulf laut und deutlich:

Jetzt ist es soweit.

Als sie die Überraschung der Spiegelfrau sah, sprach sie weiter: „Ich habe es unsäglich satt, die zu sein, die ich bin und die ich gewesen bin; ich will nicht länger meinen seit ewigen Zeiten gewohnten Platz, sondern den eines anderen Menschen einnehmen, mich selbst vergessen und die  begraben, die ich gewesen bin.“ Sie holte tief Luft und schaute die Frau im Spiegel lange herausfordernd an. Die lächelte, drehte sich um und entfernte sich.

Siglinde Wulff  wusste, dass ihr Mann Überraschungen noch nie gemocht hatte. Als Kind und Jugendlicher war er mit schlechten Noten überrascht worden, obwohl er sich selbst als fleißigen und braven Schüler bezeichnete, deshalb machten ihn Überraschungen immer traurig und wütend. ´Ich muss es ihm schonend beibringen, manchmal ist er unberechenbar`, dachte sie. Sie, die alles genau planen musste, um sich sicher fühlen zu können, sie würde ihre Worte sorgfältig wählen, ihn am Arm oder an der Hand berühren, ihn vielleicht noch einmal in den Arm nehmen, und dann würden sie gemeinsam einschlafen und er würde am kommenden Morgen den Tag wie immer seit seiner Entlassung an dem aufgeräumten Schreibtisch oder mit einem kleinen Spaziergang beginnen, bevor er frühstückte. Er würde sie nicht vermissen.

Vincent Wulf löschte das Licht in der Küche, schloss die Küchentür und stieg langsam die Treppe zum ersten Stock des Einfamilienhauses hinauf. Er hielt sich am Geländer fest, stützte sich nicht nur, sondern zog sich mit der rechten Hand hoch, blieb zwischendurch stehen, schaute die Streifen der Tapete an, grün-beige, beige-grün, als sähe er sie zum ersten mal. Ekel überkam ihn, ein körperlicher Ekel, als  sei er mit verdorbenem Essen vollgestopft worden. Als er oben ankam wurde ihm schwindlig, sodass er einen Moment stehen blieb. Nach wenigen Schritten Stieß er die Tür zum  Schlafzimmer, die nur angelehnt war, auf.

Siglinde Wulf saß aufrecht im Bett, schien auf ihn gewartet zu haben, was ihn sehr verstörte.

Warum lässt sie mich nicht in Ruhe, dachte er, unendlich müde geworden, ohne jedes Interesse, an diese Frau nur ein einziges Wort zu richten. Er ging ins Bad, zog sich langsam aus, putzte sich die Zähne, nahm den Schlafanzug vom Haken, stieg hinein, schaute sich im Spiegel lange an, die Augen, klein und gerötet, heruntergezogene Mundwinkel, die Lippen aufeinandergepresst.

Das bin ich nicht, sagte er halblaut, das Entsetzen kroch ihm in die Augen, er atmete kaum, schaute  und schaute. Dann holte er tief Luft und ging mit aufgeblähten Lungen ins Zimmer zurück.

„Warum lässt du mich nicht endlich in Ruhe“, fauchte er.

„Tu ich, ja,“ sagte sie ruhig mit dunkler Stimme und nickte. Sie warf einen Umschlag, den sie hastig aus der Nachttischschublade gezogen hatte aufs Bett. „Lies!“

Vincent Wulf stand vor ihrem Bett, griff nach den Umschlag ohne sie anzuschauen, öffnete ihn und las. Seine Augen hasteten über das Papier als suche er mehr oder andere Worte, seine Hände zitterten, sein Gesicht lief dunkelrot an, er atmete schnell, die Finger umklammerten krampfhaft das Papier und im gleichen Moment sackte er zusammen, fiel auf den Boden.

Der Krankenwagen brachte ihn in das nahegelegene Krankenhaus und der diensthabende Arzt konnte nur noch den Tod feststellen.

Siglinde Wulf beauftragte Sohn und Tochter mit der Beerdigung, die Scheidungspapiere zerriss sie und hatte noch genug Zeit Erbschaftsangelegenheiten zu regeln, bevor sie  ihren one way Flug nach Kolumbien antrat.

    


                           Rituale
 
   Es ist die Hitze und das Flirren der Webervögel , der Geruch des verdorrten Grases und der Duft der Wildkräuter, die Schönheit der steinernen und wüstensandigen Landschaft, die großartige Tierwelt, dass ich innehalten möchte. Ich sehe den schmalen Pfad in der kargen Berglandschaft und die Ansammlung von schilfgedeckten Hütten mit den Menschen, die sich hin und her bewegen in der Hoffnung, hier eine Bleibe zu finden. Ich sehne mich nach der Einfachheit und Schönheit dieses Landes, ohne die Mühen des Überlebens teilen zu können.
    Am Horizont der Vergangenheit taucht eine Frau auf, deren Geschichte ich mit einem kleinen aber bedeutenden Ausschnitt ihres Lebens aus dem Dunkel des Vergessens hervorholen möchte  und  ihr für eine kurze Zeit Gegenwart leihen möchte.

 
   Vor langen, langen Zeiten, als die Menschen Göttinnen und Götter noch nicht auf den Olymp oder in den Hades verbannten sondern mit ihnen lebten, als Frauen und Männer unterschiedlichen Tätigkeiten nachgingen und doch gleichwertig waren, als Weisheit noch mehr galt, als Wissen, erzählten Mütter ihren Töchtern, wenn sie das erste Mal bluteten, dass jetzt der Körper gereinigt wird, damit neues Leben in ihm wachsen kann. Die Frauen kannten die Zeiten der Reinigung, vereinigten sich mit dem Mond, der ihnen Rhythmus anbot. 

   Nach der ersten Blutung gab es jungen Frauen zu Ehren ein Fest, sie wurden geschmückt, tanzten ihren rituellen Tanz und wurden begleitet von rhythmischem Gesang der ganzen Sippe, auch der Männer. Es war das Zeichen, dass jetzt die Männer der Frau als mögliche Trägerin neuen Lebens rücksichtsvoll und respektvoll begegnen würden. Sie war jetzt kein Kind mehr, das mit anderen Jungen und Mädchen herumtollen konnte. Alle hofften und warteten, dass sich der Bauch bald wölben würde, beobachteten sie, neckten sie wenn der Bauch über lange Zeit flach blieb, und unterstützten sie bei der schweren körperlichen Arbeit auf dem Feld. Die Frau konnte sich jetzt einen männlichen Partner wählen und wenn dieser sie auch begehrte, vergnügten sie sich miteinander und mit der stillschweigenden Billigung aller.

     Eines Tages, die Sonne wärmte schon am Morgen die sandige Erde, geht Mira den vertrauten Pfad entlang, sammelt Beeren und Früchte im weiten Umland und füllt damit allmählich ihren aus Schilf geflochtenen Korb, den sie auf dem Kopf sicher balanciert. Ihre dunkle Haut glänzt in der Morgensonne. Sie bewegt ihren Körper stolz und geschmeidig. Sie weiß um ihre Schönheit. 

Mira war vor einigen Tagen in den Kreis der Frauen feierlich aufgenommen worden, nachdem sie zum ersten Mal drei Tage mit dem vollen Mond geblutet hatte. 

   Mira beobachtet heimlich Joso, den Freund aus Kindertagen beim Bearbeiten von Pfeilspitzen mit dem Gift aus Strophantus Blättern. Er sitzt auf dem Boden vor der Hütte, die er mit seinem Jagdbruder und weiteren Sippenmitgliedern teilt. Er ist groß und wendig schnell bei der Jagd, hat ruhige Hände und eine warme Stimme, wenn er die Auerochsen ins Geschirr zwingt.  Jetzt bleibt Mira stehen, setzt ihren Korb ab und schaut ihn voller Sehnsucht an, halb verdeckt durch die Äste eines jungen Affenbrotbaumes.  Ich möchte ihn berühren, seine glänzende Haut streicheln, seinen Geruch atmen, meinen Körper dicht an seinen drängen.  Sie wüsste gerne, ob es ihm ähnlich ergeht.

   Sie setzt ihren Korb wieder auf den Kopf und geht langsam träumend weiter. Joso hat sie bemerkt ohne seinen Blick zu heben, ihren feinen Geruch von Wildkräutern kennt er schon lange. Er konnte sie jetzt nicht mehr einfach anschauen, das wäre respektlos gewesen. Als Kinder hatten sie sich oft abends unter dem alten Mopopajabaum  leise Geschichten erzählt, sind hinaufgeklettert, haben miteinander gelacht und er durfte sie fangen und festhalten. Sie gefiel ihm außerordentlich, besonders jetzt, da sie in den Kreis der großen Frauen aufgenommen war.     Wie kann ich ihr zu verstehen geben, dass ich sie so sehr begehre, dass mir heiß wird und mein Stab sich aufrichtet, wenn ich von ihr träume, nicht nur in der Nacht. Vor einigen Tagen hatte er sogar während der Jagd ihr schönes Gesicht und den geschmeidigen Körper so deutlich vor sich gesehen, dass er einen kleinen Schrei ausstieß und den Affen  aufschreckte, den er einfangen wollte.  Jetzt steht er auf, legt die Pfeile und die Pflanzenteile sorgfältig zur Seite, wäscht im Wasserkessel seine Hände von Giftspuren ab und folgt ihr vorsichtig. Sie hört seine langsamen, ruhigen Schritte und bleibt nach einer Weile stehen, ohne sich umzudrehen. Dann setzt sie den Korb wieder auf die Erde und wartet mit klopfendem Herzen bis er dicht hinter ihr stehen bleibt. Sie spürt seinen heftigen Atem auf ihrer Haut, erkennt seinen Geruch, den sie so sehr mag und der sie an trockene Baumrinde erinnert.

   Einen zeitlosen Moment verharren beide regungslos. Dann dreht sich Mira langsam um und schaut in seine Augen, sucht die Verbindung zu dem Jugendfreund und sieht den Mann, dessen verlangender Blick an ihrem Körper haften bleibt. Sie berührt sein Gesicht, streichelt seine Brust und lächelt ihn aufmunternd an. Er berührt ihre Augen, ihren Mund und streicht mit beiden Händen ihren Körper hinab. Dann legen sich beide auf die sandige Erde und ihre Körper werden zu einer harmonischen, lustvollen Einheit.    Lange bleiben sie zusammen, genießen die Nähe des Anderen, ohne Worte.

   Es ist bereits dämmrig, als beide sich erheben. Niemand vermisst sie, alle wissen bereits davon. Nach einigen Wochen möchte Mira sich auch mit dem Jagdbruder von Joso vereinigen. Andere Männer aus weiter entfernt gelegenen Hütten gefallen ihr ebenfalls und sie gefällt vielen und sie legt sich mit denen, die auch ihr gefallen auf die Matte.   Als aus ihrem Bauch nach einigen Monden kein Blut mehr fließen will, weiß sie, dass die Erde und der Mond sich mit ihr verbunden und sie beschenkt haben. Sie läuft zu ihrer Mutter, zu den Schwestern und anderen Frauen zeigt sich, lässt sich betasten und umarmen. Sie dankt dem Mond mit Kräutern, die sie sorgfältig gesammelt und am Abend im Kreis der übrigen Frauen dem Feuer übergibt. Den duftenden Rauch atmen sie singend und lachend ein.
   Als sie Joso begegnet bittet sie ihn und die anderen Männer, die Frauen und Kinder für den Abend zu dem allen vertrauten Ritual. Es ist der symbolische Abschied von den Männern, mit denen Mira sich vereinte. Sie tanzt den Tanz, den sie von ihrer Mutter lernte und diese von ihrer Mutter und den nur die Frauen, die neues Leben in sich tragen tanzen dürfen. Die Bewegungen, die Blicke und die Gesten während der kunstvollen langandauernden Zeremonie, unterstützt vom rhythmischen Gesang der anderen Frauen informieren die Männer darüber, welche Zeit jetzt für Mira beginnt. Sie lässt die Sippe pantomimisch teilhaben am Anwachsen des Bauches und der Brüste, der von Schmerzen und Glück begleiteten Geburt, dem Nähren und Wiegen des Säuglings.  Dann teilt sie den Männern tanzend und pantomimisch mit, dass sie ab heute für viele Monde in der Hütte schläft, die kein Mann betreten darf. Erschöpft und glücklich beendet sie ihre kunstvolle Darbietung und entfernt sich langsam mit stolzem Blick aus dem Kreis der Männer, die sich jetzt laut palavernd mit einem alkoholhaltigen Getränk trösten und vergnügen.  Mira schreitet hoch erhobenen Hauptes, begleitet von singenden und klatschenden Frauen auf dem schmalen Pfad in die Hütte, die kein Mann betreten darf.  

     Mit dem Bild der sich entfernenden singenden Frauen verlasse ich  die Vision am Horizont der Vergangenheit. In ihren Ritualen sind die Ahnen, wenn auch auf andere Weise als uns geläufig immer anwesend. Es ist die Hitze und das Flirren der Webervögel, der Geruch des verdorrten Grases und der Duft der Wildkräuter in dieser kargen Berglandschaft, dass ich innehalten möchte und die Bilder festhalten will.


*** 



Im Corcovado Dschungel von Costa Rica

verloren gehen?

 

Seit kurzem ist im Corcovado-Dschungel ein Tourguide nicht mehr Vorschrift, lese ich. Ich freue mich. Von der überwältigenden Natur im Urwald träume ich schon lange, ohne andere Touristen und ohne den ausgetretenen Pfaden eines Guide folgen zu müssen. Allerdings haben viele mich gewarnt, dass jedes Jahr mehr als 50 Menschen in den Urwäldern verloren gehen, keiner weiß so genau wie und warum, und – ich lasse mich warnen. Roberto ein Freund aus Costa Rica mit dem ich schon einige Touren durchgestanden habe will mich begleiten, ich bin schließlich einverstanden. Mit ihm reiste ich

im Tortugero, dem Nationalpark an der nicaraguanischen Grenze, dort mit einem Boot auf weitverzweigten Kanälen durch dichten Urwald.

Wir schwankten in ungefähr 1800 m Höhe über die Hängebrücke im Nebelwald von Monteverde im Landesinneren.

Er war es auch, der mir ein exotisches Getränk in einer Bar an der karibischen Küste empfahl, agua de sapo, das mir zwei Tage Übelkeit und Erbrechen bescherte.

(Der europäische Magen scheint für einige exotische  Köstlichkeiten aus Costa Rica wenig geeignet.)

Roberto bereitet sich, so wie ich, das erste Mal auf eine Wanderung im Corcovado Dschungel vor. Es ist der letzte große zusammenhängende tropische Regenwald und der biologisch vielfältigste/ artenreichste Platz der Erde, lese ich im Costa Rica Führer. Begeistert und abenteuerlustig machen wir uns auf den Weg in den Süden zur Halbinsel Osa, die fast ganz vom Corcovado Urwald bedeckt ist.

Wir müssen, wie man uns an einer Rangerstation am Rand des Dschungels erklärt auf unserer Route eine Flussmündung durchqueren, was nur bei Ebbe möglich ist, also die angegebenen Zeiten genau einhalten. Bei Hochwasser warten Haie und Krokodile auf uns – wunderbare Aussichten!  Intensiv nach Zwiebeln riechende peccaries – eine Art Wildschweine, die meist in großen Gruppen umherstreifen, werden uns begegnen und uns angreifen, wenn sie sich bedroht fühlen. Da helfe nur die Flucht auf einen Baum. Auch Schlangen und Myriaden von Insekten und wilden Bienen wollen nur ungern von uns Eindringlingen in Ihrem Refugium gestört werden.

Und was tun bei einem Schlangenbiss? denke ich, frage aber nicht mehr nach.

Klingt auch so schon alles ziemlich nach Abenteuer und scheint bei aller Liebe zur ursprünglichen Natur nicht so harmlos wie ich mir das vorstellte.

Trotzdem, wir packen unsere Rucksäcke, vor allem Insektenspray, genügend Wasser, die tropische feuchte Hitze wird uns viel Schweiß kosten, gesalzene Kekse, Nüsse und Süßes zum Lutschen, Stirnlampen sollen wir nicht vergessen wird uns gesagt, warum wir die brauchen ist mir nicht einsichtig aber . . 

Um 10 Uhr am anderen Morgen gehen wir von der Rangerstation mit Plan und ohne Guide auf der Suche nach  Abenteuer los.

El sonido de la selva, der Klang des Urwald-Orchesters, das sich zusammensetzt vor allem aus Insekten und Vögel, den Aras, den wilden Papageien, den Brüllaffen; es ist so laut, dass wir manchmal Schwierigkeiten haben uns zu verständigen.

Wir bleiben immer wieder auf unserem Pfad stehen und staunen, was sich nur für uns, wie ich mir gerne einbilde, vor unseren Augen und Ohren entfaltet.

Die kleinen Kapuzineraffen schauen interessiert, hoch oben auf  Zweigen der Urwaldriesen turnend, wer sich da unten herumtreibt.

Peccarias, die nach Zwiebeln stinkenden Wildscheine, haben uns noch nicht aufgespürt, aber ein Ozelot jagt, keine 20 Meter von uns entfernt eine Art Kaninchen. Wir haben Glück, sagt Roberto, denn einen Ozelot bekommt man höchst selten zu sehen. Schlangen scheinen vor uns zu flüchten, weil wir ziemlich energisch auf den Pfaden rumstapfen, und die Insekten mögen unser Spray nicht besonders gerne. Auch damit geht es uns nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte.

Aber wir erinnern uns, nach einigen Stunden umherstreifen  und bewundern der ungewöhnlichen Pflanzen- und Tierwelt: um sechs Uhr wird es in Costa Rica dunkel und im Urwald wegen des dichten Blätterdaches bestimmt noch früher, und wir haben nicht vor im Urwald zu übernachten. Wir müssen die Flussmündung vor Dunkelheit erreichen.

Unser Schritttempo haben wir jetzt verdoppelt.

Aber die Zeit läuft uns davon, sie scheint andere Wege zu bevorzugen als wir.

Trotz ausführlichem Plan, wissen wir nach weiteren anstrengenden vier Stunden Wanderung und wunderbaren Pausen unter dem Blätterdach der Baumriesen nicht mehr, wo es weitergeht!   In einer Stunde ist es dunkel und wir sollten vorher bei Ebbe den Fluss durchquert haben, den wir aber nicht finden!

Haben wir uns etwa verlaufen?

Leise Angst schleicht sich in meine Gedanken,  breitet sich im ganzen Körper aus, mein Gehör schärft sich, meine Augen versuchen die aufkommende Dämmerung zu durchdringen, die Gerüche der modrigen feuchten Pflanzen um uns bedrängen meine Nase. Alle Sinne laufen auf Hochtouren.

Als die Dämmerung uns erreicht hat kommen unsere Stirnlampen zum Einsatz und wir müssen jetzt entscheiden, wie es weitergeht, was wir tun können. Roberto ist der mutigere, scheint seine Angst gut unter Kontrolle zu haben, er ist schließlich Costaricaner und tröstet mich mit leisen spanischen Worten, die man auch Kindern sagt, wenn sie sich in der Dunkelheit fürchten. Wir stolpern hastig weiter auf dem gespenstigen Pfad in der Hoffnung, die Flussmündung doch noch zu erreichen.

Im Licht der Stirnlampen huschen Insekten und Vögel vor uns her, das Gekrächzte der grellbunten Araspapageien und  exotischer Vögel verabschieden den Tag, locken die Nacht. Skorpione laufen am Boden, fette Kröten springen über den Weg und schreien, Murcielagos – meine Lieblingssäugetiere, die Fledermäuse – schwärmen aus und ich versuche, um mich abzulenken, große und kleine zu unterscheiden, schließlich war ich im Fledermausmuseum in Monteverde . . Brüllaffen scheinen ganz in der Nähe zu sein, sie sind harmlos wie ich weiß, aber mit ihrem seltsamen Brüllen hören sie sich jetzt für meine Ohren nur noch bedrohlich an.

Laute und leise zischende und scharrende Geräusche die ich nicht zuordnen kann scheinen sich zu vermehren, haben sich auf merkwürdige Weise verstärkt.  Irgendwann übertönt mein lauter Herzschlag mein überspanntes Gehör und ich lege erschöpft meinen Rucksack auf die dunkle feuchte Erde. „Was können wir tun“, frage ich mit zittriger Stimme.

„Es sieht so aus, dass wir doch übernachten müssen“, sagt Roberto. Er packt ein kleines Zelt und eine Folie, eine Überlebensdecke aus seinem Rucksack. „Das reicht für uns beide“, sagt er ruhig.

"Hast du sowas immer unterwegs dabei?", frage ich leicht spöttisch

"Bist du nicht froh, dass ich  vorgesorgt habe?"

Das Zelt wird auf dem schmalen Pfad aufgebaut, damit wir gefunden werden, falls jemand, hoffentlich, nach uns sucht!

„Am liebsten würde ich mich in eine Baumgabel legen oder hängen, um den Wildschweinherden, Schlangen, Skorpionen und anderen Schreckgespenstern der Dschungelnacht zu entgehen“, sage ich leise. „Du willst mit den Brüllaffen in den Bäumen gemeinsame Sache machen?, lacht er, „und die Wildschweine sind abends auch müde, beruhige dich, das kleine Zelt ist dicht, schützt uns gut“. Und er schichtet Laubzweige aufeinander, um den feuchten Boden abzudecken und zu polstern.

Die beängstigenden, unbekannten  Geräusche während der tiefen Dunkelheit in der Nacht locken mich in seltsame Bilder und Empfindungen, sodass ich Traum und Wirklichkeit bald nicht mehr unterscheiden kann. Das leise Schnarchen von Roberto vermischt sich mit dem Schreien von Nachtvögeln und dem Knacken und Scharren rund um unser Zelt. Ein schwarzer Puma schleicht sich in meinen Traum und starrt mich mit großen gelben Augen an. Lauernde Krokodile am Rand eines Flusses sperren träge ihr großes Maul auf. Ihre Schuppenpanzer blitzen im gleißenden Sonnenlicht.

Ich stehe starr vor Angst und Erstaunen am Flussufer.

Wo ist Roberto?.

Ich weiß, wenn ich jetzt unsichtbar werde kann ich den Fluss durchschwimmen und zu der kleinen Hütte am anderen Ufer gelangen. Ich könnte vielleicht auch über den Fluss fliegen, denke ich. Auf jeden Fall muss ich aber vorher in die Traumwelt gelangen, in der doch  so etwas möglich ist.

Aber ich kann mich nicht von der Stelle bewegen.

Plötzlich bekomme ich einen Stoß von hinten und schreie, weil ich in den Fluss falle, ich werde durchgeschüttelt, schreie und rudere hilflos mit den Armen, glaube zu ertrinken oder von den Krokodilen entdeckt zu werden.

Jetzt höre ich meinen Namen aus weiter Ferne.

Roberto steht am Ufer und ruft noch mal und noch mal Gila, Gila, todo bien.

Ich öffne mühsam die Augen.

Roberto sitzt neben mir, schüttelt meinem Arm, ruft mich, als sei ich woanders als in diesem Zelt. 

Ich könnte ihn umarmen vor Glück.

Es ist bereits hell, so gut es eben im Dschungel geht. Wir machen uns nach Wasser und Keksen voller Zuversicht und neuem Mut wieder auf den Weg. „Wir müssen einfach dem Pfad weiter folgen“, sagt Roberto!

Ich vertraue ihm.

Nach zwei ewig langen Stunden erreichen wir den Fluss an dessen Ufer eine kleine Hütte steht. Die kenne ich, sage ich zu Roberto und erzähle ihm meinen Traum. Nach weiteren zwei Stunden Aufenthalt in der Hütte, wir müssen Ebbe abwarten, können wir den Fluss der nur noch knietief ist durchwaten.  Krokodile und Haie meiden uns und wir sie.

Langsam wird der Pfad breiter. Und der Urwald lichtet sich.

Als wir bei der Rangerstation ankommen hatte uns niemand vermisst, sie glaubten wir seien gestern zu einer anderen Station gewandert. Wahrscheinlich wollten wir das auch.

Gehen so vielleicht Menschen im Urwald verloren?



Costa Rica

 

Das eingegrenzte Paradies

An dessen Tore Engel

Neben Teufel Wache halten

Ich bin willkommen

 

Der Wind streicht durch die Zeit

Die in der Hitze zögernd schwer vergeht

Die Steine schlucken zu viel Sonne

Für meine nackten Sohlen

 

Palmen Guanacaste Indiodesnudo

Bleiben aufrecht wenn die junge Erde bebt

Avocadobäume tragen reiche Früchte

Beugen sich dem Wind

 

Faultier Affe Leguan und Waschbär

Murciélago und Krokodile

Tapir Ozelot und Gürteltier

Der Urwald nährt sie alle

 

Ich sehe Menschen ohne Hoffnung

Am Tor des Paradieses

Mit scheuem Blick verweigern Engel Zutritt

Und Teufel kennen kein Erbarmen mit

 

Menschen ohne Zukunft  im ausgegrenzten Paradies


Costa Rica


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Kleine, große Stadt


 

Stille, enge Gassen und steinernes Schweigen in der kleinen spätmittelalterlichen Stadt Rocca. Die Fensterläden der schmal aneinander gebauten Häuser sind geschlossen. Stimmen dringen herauf im Widerhall der Gassen und verstummen wieder. Ich bin träumend anwesend, während ich am offenen Fenster sitze und die Morgensonne mein Gesicht wärmt. “Überall ist Babylon“, liegt aufgeschlagen vor mir, ein Buch über eine versunkene Weltstadt, entdeckt in einem verstaubten Regal im Flur. Der Mythos Babylon macht mich schon lange neugierig. Wie lebten die Menschen in der antiken Weltstadt vor ungefähr 5000 Jahren? Welche Bräuche und Werte gab es? Welchen Platz nahmen  die Frauen ein? In Gedanken vertieft, Babylon unterm Arm, schlendere ich in Rocca eine enge Gasse hinunter.  Der Mann auf der anderen Straßenseite lehnt an der kahlen Mauer, reglos, hält mich fest mit seinem Blick. Er zerkleinert einen Grashalm zwischen den Zähnen, schaut, hält inne - zum Sprung bereit? - und weckt in mir, der Frau,  Erinnerungen an Jahrtausende alte Bedrohung. Ich gehe mit starr nach vorne gerichteten Augen weiter, drehe mich nicht um und so verschwindet er wieder. Nur sein Schatten streift meinen Rücken, breitet sich aus und zwingt mich zurückzuschauen. Er hat sich nicht von der Stelle bewegt, jetzt einer Statue ähnlich, geht sein Blick ins Leere. Ich setze mich erleichtert an einen schattigen Tisch an der Eingangstür des kleinen Straßencafés. Die alten Männer schauen nicht auf als ich mich – die Fremde und die Frau, Frauen sind für sie in der Küche und am Herd sichtbar - in der Nähe ihres Zufluchtsortes niederlasse. Giorgio, der Besitzer des Cafés, bringt mir einen doppelten Espresso. Seit drei Tagen bin ich für ihn keine Unbekannte mehr, lobe in stolperndem Italienisch seine kleine Stadt, als er wissen will, wo ich herkomme und wo ich  wohne, spare nicht mit Worten. Jeder kennt jeden zu gut in diesem Viertel, als dass ich etwas auslassen könnte. Überprüfte und genehmigte Freiheiten. Frauen von Rocca treffe ich am Vormittag in dem kleinen total überladenen Geschäft des Viertels, in dem es so gut riecht und in dem man, vom Gemüse bis zur Glühbirne, alles kaufen kann. Am häufigsten sehe ich sie am Spätnachmittag mit den Kindern und mit anderen palavernden Frauen  auf der „Piazza Centrale“. Hier erzählen sie die Geschichten zu Ende, die sie beim Salsa kochen begonnen hatten. Die Männer erörtern italienische Affairen. Ein Ort ersehnter Freiheit? Entkommen sie hier der Routine ihres unaufgeregten Alltags?

Ein Piaggio, dessen Fahrer das Führerhaus mit seiner ganzen Körperfülle  besetzt, tuckert träge stinkend die Straße von Rocca hinunter, beladen mit undefinierbaren, von alten Säcken flüchtig bedeckten Baumaterialien. Ich schaue, schaue, die Gedanken verlaufen sich, ein wohliges Gefühl der Trägheit breitet sich aus. Die alten Männer mit ihren zerknitterten Gesichtern, Zigarettenstummel im Mundwinkel tauschen, ohne Worte zu vergeuden, Spielkarten nach einer geheimen Regel aus. Jüngere Männer lehnen lässig an der Wand des Cafés, schauen mit gelangweiltem Interesse auf den Spieltisch. Eine Bühne voller Statisten.

Die Geräusche aus dem Innern des Cafés sind aufdringlich. Die jeden Unsinn verbreitenden und mit Werbung zugemüllten Programme des Fernsehapparat bleiben den ganzen Tag auf Augenhöhe am Netz. Sie gaukeln Normalität vor, die uns auf eine Spur zwingen will, auf der sich die Dummheit wie klebriger Honig über die sogenannten Tatsachen des Lebens legt. Diese Spur verleiht dem Denken die Trägheit und Zähigkeit, die Sehen und Verstehen verstopft.

Die Luft im Innern ist drückend.

Die Augen von Giorgio, der jetzt an der Eingangstür erscheint, heften sich auf eine junge Frau auf der anderen Straßenseite in silbergrauen Leggins, rotem, lockigem Haarschopf und auf die beiden Kinder, die die Welt an diesem Vormittag mit ihren bedingungslos offenen Blicken herauszufordern scheinen. Ein Kinderfahrrad soll partout mit ans Meer, ein Auto scheint zu klein dafür. Die Mutter schaut eine Weile den Anstrengungen des Vaters zu, erlöst ihn dann und verstaut, nach schier endlosen Versuchen ihrerseits, das Fahrrad in den kleinsten Kofferraum, den Italien produziert. Die Maschinenpistole des Jungen bekommt noch mal die Chance in Vaters Knie zu ballern, bevor auch dieses bunte Plastikteil in der jetzt bis zum Rand gefüllten Blechhöhle verschwindet. Nur raus aus der stickigen Stadtluft.                    

Ciao Papa, Ciao Opa Giorgo. Mutter und Kinder schnuppern bereits das Meer. Der Vater trottet zu seinem Arbeitsplatz im Café von Opa Giorgio, der winkt dem losbrausenden Auto hinterher. Mein Lächeln begleitet sie bis zur nächsten Kurve.

Belanglosigkeit breitet sich aus, verlacht alles Bemühen, den Kopf über die Wasseroberfläche zu heben. Leicht verkümmert scheinen die Menschen hier zu treiben, unterhalb des Pegels, und erreichen die Zufriedenheit verstummter Fische, die den gierigen Fangnetzen der Wohlstandsgesellschaft nur selten entkommen.

Ist es  Anspruchslosigkeit, die eine Stadt wie Rocca schläfrig macht?

Die toskanische Schönheit, seit langer Zeit in den alten Häusern konserviert, kann die Trägheit und Enge nicht mildern. Rocca - so scheint mir - schleppt sich wie ein müde gewordener Greis, schwer atmend durch die vergangene Zeit.  

Die alten Männer am Nebentisch verteilen  gebieterisch schweigend die Karten neu.

Ein abgemagerter Hund schnüffelt den Bürgersteig entlang und verschwindet im kleinen Park,  in dem die Früchte der Pinien und Zypressen beharrlich reifen. Ich bestelle mir einen weiteren Cappuccino in der Hoffnung auf Erkenntnis, was diese steinerne Stadt heute mit Spannung und Bewgung füllen, den Schleier der Bedeutungslosigkeit zerreißen könnte.

Die dünne Glocke einer kleinen, stets verschlossenen Kirche hoch oben auf dem Felsen,  kündet mit blecherner Stimme die Mittagszeit an. Die leise vor sich hin summende Alte  auf der Holzbank gegenüber hat die Bohnen fertig gezupft und schlurft ins Haus zurück.

Die Spieler werfen ihre abgegriffenen, angeschmutzten Karten in die Mitte des Tisches und stehen auf, Worte murmelnd, weniger miteinander als jeder vor sich hin, in zerhackt klingendem Dialekt.  Die Statisten verlassen die Bühne.

Die Mittagshitze breitet sich weiter aus. Die Metallgitter vor den wenigen Ladentüren rasseln zu Boden. Schwermütige Ruhe legt sich vor die Haustüren. 

Ich bezahle und wandere in der kleinen Stadt durch die engen Gassen, vorbei an geschlossenen Fensterläden, überquere die leere „Piazza Centrale“ in Richtung Stadttor und besteige in der flirrenden Mittagshitze die Reste der mittelalterlichen Mauer.

Welcher Geist ist hier verweht und hat alles zum steinernen Verharren gebracht und nur das Raunen hinter schmutzigen Händen erlaubt? Ist der stolze Ausdruck der toskanischen Männer in den dumpfen Mienen und dem vernachlässigten Körper der Alten versickert? Sind die schönen und selbstbewussten italienischen Frauen in schlurfenden laut palavedrnden Alten endgültig verstummt?

Ich weiß es nicht.

 

*** 

Ute im Spital


Ruhe dringt durch das offene Fenster zum Mauervorsprung zum kahlen Baum und den leichten Bewegungen der Astspitzen im Grau des Himmels.

 

Nur das Blättern des Katalogs ist zu hören, diese stille Dauer, altes immer wieder neu geschaut, Seite um Seite.

 

Ein flüchtiger Blick zu mir aus hellbraunen Augen

ein rundes Mädchengesicht von 58 Jahren. Mit

rosa Kopfhörern ist sie verbunden mit Musik aus aller Welt in der sie selten willkommen ist.

 

Sie ist auf der chirurgischen Station das „Down Syndrom“ aus Zimmer Nummer fünf.

 

Seit unsere Mutter tot ist wird Ute von meiner Schwester Eva und mir betreut. Meine Anwesenheit in der Klinik gibt Ute Sicherheit. Seit einer Woche begleite ich sie zu Untersuchungen, erkläre ihr Anordnungen die sie kaum versteht und von Angst überwältigt nur noch schreit. Ich tröste und halte sie, verspreche ihr, dass ich bei ihr bleibe, bis sie wieder nach Hause kommt. Sie vertraut meinen Worten und beruhigt sich. Am Abend bevor ich gehe  massiere ich ihre kalten Füße und singe ihr zum Einschlafen Kinderlieder, die sie von früher noch kennt. Wenigstens drei Mal am Tag sage ich ihr, dass sie meine allerliebste Schwester ist und umarme sie, was sie außerordentlich genießt. Ich genieße ihre aufrichtige tiefe Zuneigung zu mir, die sie mir ohne Worte zeigen kann.

Mit Hilfe von Musik, Ballspielen, Geschichten erzählen oder vorlesen, Erinnerungen, die ich mit Fotografien unserer Familie auffrischen möchte, wünsche ich mir, ihren geistigen Abbau aufhalten, oder vielleicht verlangsamen zu können.



Ute krank im System der Klinik Vorschrift

 

Ich liege schwebe

Schließe meine Augen

Erschrecke in den eigenen Traum

Schweigen löst die Stille ab

Bin ich gesund?

Routinekrank?

Systemvorschriftskrank?

Krank im System der Klinik Vorschrift

K       S         K      V

  

Ich glaub es nicht und doch

Bin ich hineingezwungen

Zittre schreie stemme mich dagegen

Dann schlucke ich die Pillen

Und spuck sie wieder aus

 

Der Tropf der SKV hängt hoch

Ich schlucke nicht

Es schluckt mein Blut

Im Widerspruch

Diaceporen Tavoren

Maceronen und Profonen

 

Die Lider werden bleiern

Träume schäumen wild

Ich bin gemixt gefixt

Und in der Zwischenwelt Zuhaus

 

Bin ich vermisst?


 

Drei Schwestern in der Klinik

(aus der Sicht von Ute)

 

Meine Schwestern fallen aus der Rolle

Verordnung und Routine spielen sie nicht mit

 

Ich lasse Mozart an mein Ohr

mein Buch zwei Zentimeter breit und hoch

Kataloge fest in der zittrigen Hand

verschreie ich die stationäre Prozedur

 

Gila rennt die Treppen rauf und runter

verweigert „ gehen sie doch mal raus“

entlarvt die mörderische Pillengabe

erzwingt die bessre Unterkunft für mich

 

Eva nutzt ihr klares Nein

mit amtlich verfügtem Recht

Verweigert die Routine der Behandlung

Und schiebt mich jeden Mittag ins Café

 

„Ich will nach Hause“

 ist mein täglich wiederholter Satz

 

Ein großer Chef in weißem Kittel

gewährt uns Unterstützung

 

Der Rollstuhl rollt

 

Drei Schwestern lachen

Und rollen durch die Kliniktür nach Haus


***

 

Erwachen heißt die Welten wechseln

                                             

Was für ein merkwürdiger Weg! Ich gehe wie in Trance immer weiter, einfach weiter. Die Füße sind Erdklumpen gleich, die sich nicht mehr vom lehmigen Untergrund lösen wollen. Die Augen tränen und mein Atem geht stoßweise. Ich bin total erschöpft, weiß nicht wie es den Anderen geht, sie sind weit vor mir hinter einer Kurve des Weges verschwunden und es ist mir egal. Ich suche nicht lange nach einem Fleckchen Erde, auf das ich mich niederlegen, einfach ausstrecken kann.

Das dichte Gehölz, in das ich hineinstolpere, gibt mir nicht viel Raum. Wenig Licht dringt durch. Es riecht  nach Moos, fauligem Laub, nach Exkrementen von Wildschweinen, Hasen und anderen Waldtieren, Gerüche, die ich als Kind kennenlernte bei den seltenen Ausflügen in den großen Wald mit seinen dunklen Geheimnissen, der mir Angst und Respekt einflößte, der mir entspannte Atmung nicht gönnte. Der Wald mit zum Teil undurchdringlichem Dickicht, das meine Eltern durchstreifen mussten, schien mir endlos, ich war ihm ausgeliefert, gefangen, machte heimlich die Augen zu und ergriff schnell die Sicherheit versprechende Hand der Mutter, bis ich endlich wieder im Sonnenlicht blinzeln durfte.

Heute suche ich den Schutz des Dickichts, den weichen nachgiebigen Waldboden, genieße die würzigen Düfte, lasse mich erschöpft nieder. Der Rucksack dient mir als  Kopfkissen.  Das Abendlicht habe ich ausgesperrt. Sofort falle ich in einen Dämmerschlaf, glücklich und ahnungslos.

Es mögen wenige Stunden vergangen sein, als ich aufschrecke und tiefe Dunkelheit mich umgibt. Aber etwas stimmt ganz und gar nicht, befremdet mich aufs höchste. Ich fühle Angst hochkriechen, lautlos und  unheimlich wie eine noch unsichtbare Schlange, deren Gegenwart ich ahne,  wage mich kaum zu bewegen. Meine groß aufgerissenen blinden  Augen tasten die Dunkelheit ab, vergeblich. Meine Ohren sind zu riesigen Hörrohren angewachsen, aber kein noch so kleiner Laut, den ich zuordnen könnte, dringt zu mir. Panik füllt die feindliche Stille. Ich richte mich vorsichtig auf, meine zittrigen Hände fühlen den Rucksack, der noch die Wärme meines Kopfes speichert. Das beruhigt mich ein wenig.

Doch jetzt bewegt sich etwas rau und schwer an meinem Körper. Ich taste vorsichtig  mit angehaltenem Atem und fühle … Schnüre, lang und faserig, ich taste ungläubig  weiter und meine Hände erkennen plötzlich ein grobmaschiges Netz, das an meinen Körper weiter zu wachsen scheint, sich über meinen Kopf ausbreiten will, die Beine bereits festgezurrt hat,  meine Arme zu umschlingen droht wie eine Schlange, die ihr Opfer einwickelt um es zu erdrücken. Ich reiße, zerre, rudere jetzt wild mit  Händen und Armen, schnappe nach Luft, einem Ertrinkenden gleich, der den Verstand zu verlieren droht. Der Kopf schlägt in alle Richtungen, der Mund ist zu einem Schrei weit aufgerissen, aber kein Laut dringt nach außen. Die Verzweiflung jagt mich wie ein Löwe, dem seine Beute nicht entkommen kann. 

Plötzlich rutscht die Zeit weg. Der Schatten eines früheren Lebens legt sich auf mein Herz, das wild pocht. Ich werde in einen undurchdringlich dunklen  Raum geschleudert. Es riecht nach Schweiß und Angst. Die Gesichter der Leute kann ich nicht erkennen, aber ich höre leises Weinen, gemurmelte Worte, Gebeten ähnlich, einige Menschen schimpfen und fluchen, andere scheinen schweigend ihr Ende zu erwarten. Ich verstehe nicht, was um mich herum geschieht, aber ich spüre die Panik  aller, ahne die Falle in der wir stecken.  Ich bin eingeschnürt wie eine im Netz sich mehr und mehr verfangende,  zappelnde Beute. Die Luft ist zu schwer zum Atmen.

Dann legt sich ein Schleier über die dramatische Szene und ich sinke in einen ohnmächtigen Schlaf, den Kopf auf dem Schoß meiner betenden Großmutter. Als ich erwache liege ich in meinem weichen Bett in ihrem Haus, das von Angriffen verschont wurde. Wir leben. Ich kann wieder frei atmen.

Der nächste tiefe Atemzug verbindet mich mit Gerüchen nach fauligem Laub und feuchter Erde. Aber was ist mit meinen Augen? Sie starren in eine undurchdringliche Dunkelheit, ich höre mein Herz laut pochen,  Hitze steigt in mir hoch und mein Gehirn, das sich an etwas zu erinnern scheint, mir etwas mitteilen möchte, arbeitet wie ein rasender Computer, der mir mit unglaublicher Geschwindigkeit notwendige  Auskünfte  ausdruckt:

Du bist  in einer ausweglosen Situation. Du kannst dich ohne Hilfe von außen aus einem Netz, das seine Maschen weiter um dich zieht, nicht  befreien, du bist verloren.

Ich hatte doch immer Glück im Leben plappert mein Hirn, während mir in dieser unheimlichen Dunkelheit meine hoffnungslose  Situation bewusst wird. Meine eiskalten Hände fühlen, greifen, arbeiten, ich weiß nicht wo und wie.

Wo ist meine Nagelschere? In der Dunkelheit  wühle ich hastig in meinem Rucksack, suche den kleinen Beutel, in den ich hoffentlich die Schere eingepackt  habe, der Reißverschluss klemmt, ich stöhne. Jetzt habe ich keine Zeit mehr, das schwindelerregend schnell wachsende Netz wird an meinem Hals  nicht haltmachen, es wird erbarmungslos  mein Gesicht einfangen, mir die Luft abschnüren.  Ich reiße, zerre, beiße wie ein wütender,  hungriger Hund an dem groben Gewebe, den schweren widerspenstigen Maschen.  Das  Zerreißen dringt in meine Ohren,  grelle Töne, die zu heftigem schrillem Geläut anwachsen, Sturmgeläut, das die  Katastrophe ankündigt. Ich darf keine Zeit verlieren, ich renne los, falle, stehe auf, falle, kann mich an ein Seil klammern. Ich ziehe mich schnell daran hoch, hoch, zum Sturmgeläut, das unbarmherzig  und warnend in meinen Ohren dröhnt und  das ich unbedingt beenden muss.

Der niedrige Eingang des Glockenturmes hoch oben ist verschlossen.

Ich muss  zurück, aber ich weiß es ist lebensgefährlich, das Sturmgeläut nicht zu beenden, doch lange kann ich das Seil nicht mehr halten. Die Hände schmerzen und zeigen die ersten blutigen Risse. Wut und Verzweiflung wechseln sich ab.

Endlich überwinde ich mit letzter Kraft auf der Suche nach einem Zugang das Dach des Turms, in dem die grellen Töne weiter und weiter warnen. Ich finde einen Eingang, der gleichzeitig Ausgang  ist. Ich lasse das Seil los. Das Sturmgeläut verstummt.

Ich gleite, schwebe abwärts.

Alles um mich ist in tiefe Stille gehüllt.  

Der Boden, den ich bald spüren kann, ist weich und riecht nach Moos und fauligem Laub. Undurchdringliche Dunkelheit umgibt mich.

Eine Erinnerung  an Panik und Ausweglosigkeit findet wieder ihren Weg.

Unerwartet  schnell stehe ich aufrecht, schüttele Arme und Beine in wilder Hast von vielen Schnüren frei, stolpere durch das Dickicht,  durch die Dunkelheit, lasse meinen Rucksack mit allem was mir bisher in meinem Leben unentbehrlich schien  zurück, ich renne,  Zweige des Dickichts kratzen mein Gesicht, ich renne , falle, stehe auf, renne, weiter, weg nur weg, und. .

stehe plötzlich unter einem klaren Sternenhimmel, der die Umgebung in ein sanftes Nachtleuchten einhüllt.

Mein Herz rast, als sei der Horror mir noch auf der Spur. Als ich glaube entkommen zu sein und den Mut finde zurückzuschauen zu dem Dickicht, dem weichen würzig duftenden Boden, der mich zum Schlafen verführte und mich nicht mehr loslassen wollte, entdecke ich nur weite, leere Ebene,  in der kein einziger Strauch zu entdecken ist. Ein Weg schlängelt sich durch eine dämmrige Landschaft, die im Sternenlicht so friedlich und still zu schlafen scheint, und verschwindet  am dunklen Horizont. Die dünnen Äste eines Baumes neben mir ragen in den Nachthimmel. Ich drehe mich einige Male langsam und misstrauisch im Kreis, ich reibe mir die Augen. Nichts, nichts!

Die frische Nachtluft dringt tief in meine Lungen ein.

Mein Herz beruhigt sich.

Mein Rucksack, wo ist mein Rucksack, er muss doch irgendwo

 . . . .  einige Schritte von mir entfernt ein dunkler Schatten am Baum?

Zögernd bücke ich mich und halte meinen Rucksack in der Hand.

Der runde Mond über mir lächelt.

***


Aus den Fugen!          

 

Ich weiß nicht, ob ich mit ihr befreundet bleiben kann. Ich habe schon zu viel darüber nachgedacht. Das Desaster, das ich angerichtet habe in meinem Leben - seit ich sie traf - ist grandios, wie ihre prallen Arme und Beine, ihr mächtiger Busen, ihre wallenden roten Sturmlocken und ihre kleinen glühenden Augen, die die rosenfarbenen Fleischfalten in ihrem Gesicht beiseite schieben können.

Am Anfang dachte ich: eine Erscheinung! Der hörst du lieber zu. Woanders hätte ich anders gedacht. Ihre Wörter, die ich bewunderte, baumelten an einem dicken Faden, der sich ihrem Mund entrollte. Bevor ich etwas antworten wollte, konnte ich nicht mehr. Ich gebe es zu, ich bin klein und schmächtig wenn ich mich mit anderen Hosenträgermännern vergleiche, und ich bin schüchtern.

Dann geschah doch etwas, was ich nicht gleich als nützlich halten konnte. Sie saugte mit ihren Augen an mir, seufzte. Nein, jeder Quadratzentimeter des immensen Raumkörpers, der die Sonne verdunkelte, wenn sie leuchtete, seufzte und trieb mir Tränen in die Augen. Ich stieg auf die Fußspitzen und reckte den Hals als zöge eine unbekannte Kraft mich zum Himmel empor. Sie umarmte mich unnachgiebig sanft und ich verschwand in ihrem Busen, der einzigen schwitzigen Fuge, die meinen Kopf aufnehmen wollte und es plopste und waberte, gluckste und schnaubte, und sie dröhnte: „Oh, là là“, und ich hielt es aus, bis ich es nicht mehr aushielt und mich vor der aus den Fugen geratenen Begegnung in Sicherheit bringen wollte.

Wahrscheinlich war ich doch ein wenig angespannt. Das Problem ist, wenn sie mich wieder umfasst, dass jeglicher Atemzwischenraum vernichtet wird, ich der Ohnmacht nahe bin.

Oder sollte ich denken, dass ich mich einverleibe? 

Sie mich einverleibt?

Ein einziger Leib geworden?

Aufregend, mächtig und dunkel.

Mit diesen Gedanken habe ich mich bis jetzt immer wieder auseinandergesetzt, besser, zusammengesetzt, habe sie umflogen, wie die Fliege den heißen Brei und mir dabei die Flügel überhitzt.

Alles in meinem Leben läuft mit ihrem gewaltigen Schatten hin und rauf und eckig und runter.

Etwas stimmt also ganz gewiss nicht!

Heute Morgen zum Beispiel hatte ich einen Traum als ich aufwachte und schon bevor ich einschlief. Der läuft seither neben mir wie ein Bär an der Leine. Ich muss dazu sagen, dass mir Bären, auch wenn sie an der Leine sind, große Angst machen können.  Also, ich träumte, drei riesige Speckrollen walzen auf mich zu, ich kann mich nicht bewegen, sie überrollen mich, plätten mich zu einem dünnen Pfannkuchen.

Es gibt mich nicht mehr, jemand hat mich aufgegessen. Oder sich mich einverleibt, könnte ich sagen. Ich erwachte in einer fast Ohnmacht, wälzte mich im Bett - jetzt konnte ich mich richtig bewegen - dachte voller Verzweiflung nicht an Speck, sodass mir sogleich von der Zimmerdecke dicke Putten entgegen lachten.  

Ich bin eher schmächtig, das gebe ich ja zu, aber selbst Herkules wäre in Ohnmacht gesunken, hätte er diese Walzen Speck aufhalten müssen.

Im Büro habe ich zwei Tage mit keinem Menschen reden können. Wer redet schon gerne über Speck. In meiner Umgebung entsorgte ich alles, was glänzte oder so tat als ob.

Das kann doch nicht richtig sein!

Richtig wäre, wenn ich in den entsorgten Spiegel schauen wollte und mir die Hosenträger stramm ziehen könnte.

Jetzt sitze ich hier an meinem Schreibtisch und bemühe mich schon den ganzen Tag, nicht daran zu denken, was mir heute Abend als Genussversprechen  entgegen walkt. Ich bin voller guter Vorsätze, und trotzdem sitze ich untätig herum und starre auf das leere Blatt Papier, lese die Sätze, die meinem Kopf ständig entschlüpfen wollen und den Ausgang nicht finden sollen.

Vielleicht wird sie ja gar nicht mehr kommen wollen, nicht, weil wir uns nicht begehrten, sondern weil sie erschöpft ist von unserer Lust mich einzuverleiben. Es wäre trotzdem falsch zu schreiben, sie würde mir fehlen, wenn sie nicht kommt, weil sie in meiner Vorstellung immer da ist, neben mir herläuft. Und doch wird sie dann woanders sein und ich werde am Küchentisch sitzen und mir die Nase putzen.

Kann sein, dass ich letztes Mal ungerecht war, als ich sie eine Armlänge (meine ist länger als ihre) von mir fernhalten konnte. Ich war an diesem Abend so stark und satt.

Ich sagte ihr später, dass ich mich verrannt habe, aber das mache nichts, ich sei sowieso auf Abwegen, seit sie mich begleite. Sie stand bald so in Flammen, dass ich fliehen musste. Trotzdem entschloss ich mich, noch eine Weile bei ihr zu bleiben, wenigsten noch diese Nacht.

Aber heute nisten Zweifel in meinem Chaoskopf.

Eine nützliche Entscheidung wäre, bevor mein Leben ganz aus den Fugen gerät, meine mickrige Erscheinung nicht mehr zu mögen.

Die zweite Eingebung gefällt mir auch: Ich lasse mich einverleiben, atme ihren Atem, verstopfe die Ritzen mit wohligem Gurren, nähre mich von ihrer Nahrung.

Ihr Körper bejaht schließlich meine Sehnsucht nach Einverleiben.

Ich mache jetzt keine Zukunftspläne mehr, die Frage ist doch, ob ich mich noch leben kann, wenn wir uns einverleibt haben werden.

(Was für ein appetitanregendes Wort!)


***


 

Am Mittagstisch

 

Er hält die langen grauen Haare seiner Halbglatze mit einem Gummiband am Hinterkopf in einem Schwänzchen fest.

Sie hat dunkel gefärbtes, volles Haar, das glatt gekämmt um ein schmales Gesicht fällt. Ihr leicht gekrümmter Oberkörper steckt in einem verwaschenen irischen Schafwollpullover.

Er trägt eine dunkelblaue Wolljacke über einem  blaukarierten Hemd. Ein grauer Bart bedeckt sein Gesicht. –

Er war Haarmodel erzählt er stolz den beiden jungen Leuten aus München, die auch Gäste des Hotels sind und seit ein paar Tagen mit ihnen am Mittagstisch sitzen. Er streicht sich leicht grinsend über das lichte Haar, erzählt von seinen Erfolgen als junger Mann in Dublin, dass er auch öfter auf einem Titelblatt landete und einmal in einer Show auftrat.  Seine Frau schickt ihm ein liebevolles Lächeln. Sie bestellen eine Flasche Rotwein.

Aber in Deutschland habe er junge Leute in dieser Sparte nur noch beraten. Er schaut den jungen Mann interessiert an, der den Blick nicht erwidert. Er scheint abwesend, mit seinen Gedanken  und seinem leeren Blick irgendwo.

Die alte Dame erzählt heiter, leicht spöttisch mit vielen Pausen, aus dem Leben ihrer besonderen Mutter, die sich dem Bild, das sich die Leute in Irland von einer nicht mehr ganz jungen Frau aus Deutschland machten vehement widersetzte. Sie beschreibt vergnügt, wie die Mutter noch mit fünfzig als Tänzerin und Sängerin in den Pubs auftrat, sorgfältig geschminkt und exzentrisch gekleidet und die von der Tochter, die gelegentlich dabei sein durfte, sehr bewundert wurde. Die Mutter verdiente in Irland das Geld, damit die Familie überleben konnte.

Die junge Frau hört aufmerksam zu, lacht an unterschiedlichen Stellen. Ihre dunklen Augen ruhen kurz auf der Person, der sie sich gerade zuwendet, verweigern die Anteilnahme nicht. Ihr sympathisches, ovales Gesicht ist von struppigem blondem Kurzhaar begrenzt. Die weiße Seidenbluse verleiht ihr etwas Eleganz.

Ihr junger Begleiter, unaufdringlich in Anzug und Schlips schweigt mit gleichgütigem Gesicht in die Runde.

Achtundsiebzig und Achtzig Jahre sind wir, sagt der Mann in dem er sich den jungen Leuten wieder freundlich zuwendet, eine Antwort nicht erwartet.

Ein liebevoller Blick zu seiner Frau.

Der junge Mann lässt seine Augen auf seinem Teller hin und her gleiten, isst konzentriert, ungestört.

Sie redet jetzt leise vom Sterben der Mutter, die sich dem Tod nicht freiwillig überlassen wollte, die ihrem langen und doch zu kurzen Leben am Ende jeglichen Sinn absprach, die die Tochter mit ihren Angstträumen nicht schonte und sich jeden Trost verbat, die trotz allem laut und von Herzen lachen konnte.

Die junge Frau schaut interessiert mit großen Augen zu der alten Dame auf, unterbricht sie nicht.

Der alte Mann zittert leicht während er die Gabel mit kleingeschnittenem Fleisch zum Mund führt. Mit einem warmen Lächeln sieht er seine Frau an, die seinen Blick dankbar erwidert.

Die folgende Stille, die nur durch Gemurmel vom Nachbartisch leicht gestört wird trägt die Erinnerung der alten Frau weit in die Kindheit zurück.

Sie erzählt, etwas weniger lebhaft diesmal, während sie sorgfältig den Fisch entgrätet, von September 1943, als eine Bombe auf die Brauerei des Onkels in München fiel und das Malz aus den Kesseln wie Lava über die Treppe floss, als die Mutter einen Schreikrampf im Keller bekam und der Onkel sie durch eine Ohrfeige zum Schweigen brachte, wie sie in ihrem Versteck immer wieder hungerten und Angst vor Entdeckung hatten.

Dann schweigt sie, isst langsam weiter.

Der junge Mann schaut kurz zu ihr auf, wendet sich dann wieder seinem Teller zu, nimmt einen Schluck Rotwein.

Nach einer kurzen Pause und einem Blick zu seiner Frau erzählt der alte Mann zögernd, dann schneller von dem  Feuersturm 1943, der wie ein Sog durch Hamburg zischte, die Stadt, in der er, fünfzehnjährig, sich unsichtbar machen musste, wie sein Vater eines Tages abgeholt wurde und nie wieder auftauchte . . .  und zerdrückt dabei eine Kartoffel in der braunen Sauce.

Der Himmel über uns, von Blitzen grell erleuchtet, in Dunkelheit erneut erstarrt, durch Feuerstürme aufgeschreckt, versuchst du dem Inferno zu entkommen.  In Träumen wacht die Erinnerung auf.

Die müden Augen des alten Mannes wandern unruhig zu seiner Frau, die seine Geschichten die sie in Gedanken mit erzählt, kennt. Sie weiß um die kleinen Veränderungen, die im Laufe der Jahre den Schrecken mildern konnten.

Die beklemmende Stille am Tisch wird von der Frage des Obers, ob alles so recht sei unterbrochen.

Alle bedanken sich höflich.

Die junge Frau schaut abwechselnd zu ihm, zu ihr, kurz zu ihrem Begleiter, bittet, weiter zu erzählen.

Die alte Dame erzählt mit erregter Stimme, wie der Onkel heimlich einen Extraausgang aus dem Kellerversteck schaufelte, damit sie, falls sie verschüttet werden doch noch rauskommen, wie sie als Kind im Versteck nicht weinen durfte, nicht laut sprechen, wie sie ihr einziges Buch, das sie mitnehmen durfte so oft las, dass sie heute noch Passagen daraus auswendig kennt.

Dann schweigt sie wieder.

Sie forscht im Gesicht der jungen Frau, die ihrerseits sie aus erschrockenen Augen anschaut und den noch halbvollen Teller jetzt von sich wegschiebt.

Ihr stummer Begleiter nimmt sich nochmal von den Salzkartoffeln.

Der alte Mann spricht nach einem tiefen Atemzug weiter, sich mehr der jungen Frau zuwendend über die Gefahr, von den überall anwesenden Nationalsozialisten doch noch erwischt zu werden, von den immer wechselnden und immer seltener zuverlässigen Verstecken.

Das Wort Nationalsozialisten spricht er leise aus.

Er beugt sich jetzt tiefer über seinen Teller und isst langsam weiter. Sie berührt seinen Arm einen Moment.

Dann erwähnt sie ein letztes Mal mit leiser Stimme die Panik aller im Keller und dass diese Zeit so viel Entsetzen im Leben der Betroffenen hinterlässt.

Und der alte Mann, mehr zu sich selbst:

„Alle denkbaren und undenkbaren Verbrechen sind geschehen, 

geschehen, damit kann man nicht fertig werden. Das hätte nie passieren dürfen sagen einige zu schnell.“

Dann essen die beiden Alten schweigend zu Ende.

Die Stoffservietten legen sie sorgfältig gefaltet neben ihre Teller.

Die junge Frau räuspert sich, bewegt sich kaum, will etwas sagen, weiß nichts zu sagen.

Geschichten aus dem Krieg kennt sie aus Büchern, nicht von ihren Eltern oder Großeltern, die auf ihre Fragen kaum antworten, ungehalten reagieren.

Sie schaut ihren Begleiter unruhig an, der ihrem Blick ausweicht.

Der junge Mann hat bereits fertig gegessen und sich den Mund für einen letzten Schluck Rotwein abgetupft. Zurückgelehnt, mit halbgeschlossenen Lidern schweigt er.

Seine Mimik sagt ich mag solche Geschichten nicht, was habe ich damit zu tun?

Die beiden Alten erzählen nicht mehr von ihrer abenteuerlichen Flucht nach Irland mit der letzten Fähre, auf der sich Juden noch verstecken konnten und - auf der sie sich zum ersten Mal begegnet sind.

Wir müssen gehen, sagen sie wie aus einem Mund.

Als sie sich erheben überraschen beide durch ihre aufrechte Haltung.

Sie schlüpft in einen von ihm bereit gehaltenen dunkelblauen Wollmantel, darüber wirft sie einen altrosa Schafwollschal und schmückt sich noch mit einem bunten Stirnband.

Er hat ebenfalls seinen Mantel übergezogen und bedeckt seinen Kopf mit einer schwarzen Baskenmütze.

Nur das Gummiband mit dem grauen Haarschwänzchen schaut heraus.

Beider Mienen sind freundlich, den jungen Leuten nicken sie verständnisvoll zum Abschied zu.

Sie sind schon an der Tür, als die alte Dame nochmal zum Tisch zurückgeht, vor sich hin murmelnd sich entschuldigt, ob nicht etwas vergessen wurde, schaut auf und unter Tisch und Stuhl und geht dann mit leisen Zweifeln, sich nochmals lächelnd zu den jungen Leuten umdrehend zur Tür, wo der alte Mann sie geduldig erwartet.


***


Lesen lernen

 

Kann man verhungern, wenn man nicht lesen gelernt hat und ich meine nicht nur Wörter?

 

Wenn du das Lesen heute erst gelernt hast und du unter Bergen von Büchern und Notizen deine Füße nicht mehr siehst, wenn deine Augen begierig jedes Wort, jede Zeile aufsaugen und du den Abend verfluchst, der dir die rasenden Uhrzeiger vor Augen führt, wenn die Wörter anfangen dich zu verfolgen, in deinem Kopf herumwirbeln, dann ist es Zeit das Haus zu verlassen und den Fuß nach draußen in die blaue Stunde zu setzen.

Die ungelesenen Werke auf der Fensterbank wollen dich zurückhalten, ermahnen, sie zu verschlingen bevor du wieder hungerst.

Ich trotze ihnen, noch mit einem leisen Schuldempfinden Zeit zu vergeuden und gehe.

Ich liebe das Lesen.

Ich habe nicht gelernt zu lesen wie meine Brüder, wie einige Knaben unserer Schule, die in den Bibliotheken der Väter stöberten, Homer entdeckten und denen der Vater aus den Tragödien von Sophokles auf Griechisch vorlas, denen Shakespeare als das größte Genie empfohlen wurde.

Die großen Männer, die Helden und Eroberer mit denen sich Mädchen nicht identifizieren können, warum sollten sie mir vorgelesen werden, worin konnten sie mir Vorbild sein?

Meine Mutter unterrichtete mich, wie schon ihre Mutter und die vielen Mütter es mit ihren Töchtern vor ihr taten in so genannten weiblichen Tugenden: Bescheidenheit, dem Mann zuarbeiten und Beherrschung der oft aufkommenden Wut. Zum Häkeln und Stricken war ich nicht geeignet, ich kann mich auch nicht an eine gute Beurteilung für Säuglingspflege in der höheren Töchterschule erinnern.

Meine Phantasie und meine Neugier, fanden keine Tür, die für Mädchen und junge Frauen offen stand, sie wurden von Männerhelden bewacht. Geschichten wie „Hanni und Nanni“ oder „Heidi auf der Alm“ waren ganz nett, rauschten aber an mir vorbei, glichen einer kleinen Windböe, hinterließen keine Spur.

Meine Anpassung an die seit Jahrtausenden von Männern beschriebene Welt, meine Anpassung an ihre Ideale und Erwartungen musste also glücken.

Mit einfachen Worten: Ich sollte eine ehrenwerte Frau werden.

Ich bin im 20. Jhdt. geboren.

Ich will mich nicht beklagen, ich konnte auch einiges, was nur Frauen können, erfahren und genießen, die wunderbare Zeit der Schwangerschaft und die Geburt meiner Kinder, die das Glück mitbrachte.

Aber ich wurde als Kind nicht unterrichtet zu lesen, obwohl ich alle Wörter in vielerlei Sätzen mit den dazugehörigen Zeichen laut und leise aufsagen konnte und gute Noten für die rasche Zusammensetzung der Buchstaben bekam. Ich formte Sätze, fügte Wort an Wort, hörte sie, sah sie, bewegte meine Lippen nach Bedarf, trainierte die Gesichtsmuskeln passend zu den Wörtern. Aber die Wörter tauchten wieder weg, ohne Eindruck zu hinterlassen, als sei der Wind über sie hinwegfegt und habe sie mitgenommen.

Dann habe ich begonnen auf meine eigene Weise lesen zu lernen, ohne Wörter.

Ich schaute in die Gesichter der Menschen und entdeckte, was es darin zu lesen gab.  Ihre Mimik und Gestik, ihre Körperhaltung in Verbindung mit dem was sie sagten und schließlich taten, gaben mir anfangs viele Rätsel auf, aber allmählich konnte ich darin lesen, sie verstehen, was sie berührte, wenn in ihren Augen Tränen aufstiegen, wenn sie sich hinter ihrem Gesichtsausdruck, der sich zu keiner Bewegung entscheiden wollte, versteckten, wie die Nasenflügel vor Zorn bebten, wie Scham sie erröten ließ, wie schlecht sie logen, wenn ihre Augen beim Sprechen hastig hin und her wanderten oder den Boden fixierten.

Es gefiel mir, wie viel Zärtlichkeit und Liebe in ihren Augen und in ihrem Lächeln verborgen war.

Ich las in ihren Gesten, die oft eine andere Sprache sprachen, als ihr Mund Wörter formte.

Ich konnte auch bald, was mir sehr viel Vergnügen bereitete in Träumen lesen. Träume beschreiben andere Welten, sind außerhalb der Zeit, ich war begierig in ihnen zu lesen.

Ich las und verstand, was ich las.

Als ich schließlich eine ehrenwerte Frau und harmoniesüchtig geworden war, Staub wischen und kochen konnte, vor notwendigen Auseinandersetzungen flüchtete und ich mit meinem Fernsehapparat zu sprechen begann,  da erinnerte mich ein Traum, in dem ich von lesenden Frauen umringt war, daran, dass es Bücher mit Geschichten gab. Ich besorgte mir, vielleicht aus Neugier, einen Bibliotheksausweis und machte mich auf die Suche nach dem, was ich nicht kennengelernt oder verlorenen hatte.

„Warum suchst du noch nach Frauengeschichten, was können sie dich lehren, was nicht schon Homer, die Griechen- und Römerdichter, Shakespeare, Goethe und Schiller, Männer des 19. und 20. Jahrhunderts geschrieben und beschrieben haben“, fragen mich viele. „Ja, ja,“ kann ich nur antworten, „das stimmt, aber eben nur zur Hälfte, da es schon seit Jahrtausenden die Sicht der Männer auf die Welt und die von ihnen imaginierte Frau ist und nicht der Blick der anderen Hälfte der Menschheit, der Frauen.“

Manche Männer rümpfen darüber ihre Nasen und manche Frauen streiten mit mir. Aber mein Bedürfnis nach Harmonie und Bescheidenheit hindern mich nicht mehr, meine Spuren als Frau in der Geschichte zu finden.

Und ich bin fündig geworden.

Frauen von der Steinzeit bis zur Gegenwart werden plötzlich sichtbar. Ich lese von Kulturen der Jungsteinzeit, der minoischen Kultur Kretas, sechstausend Jahre vor unserer Zeitrechnung, in denen Frauen eine bedeutende Rolle spielen und noch früher die Ausgrabungen von Chatal Hüyük, eine der ältesten Städte der Menschheit mit der Frau auf dem Leopardenthron, sehe die Venus von Willendorf, zweiunddreißigtausend Jahre vor u. Z.

Ich lese von frühen Matriarchaten in Amerika, Indien, Afrika, Südchina und . . . . . bin überwältigt.

Ich lese berührende Gedichte von Christine de Pizan aus dem 14. Jhdt., erfahre, dass viele Frauen noch bis ins 20. Jhdt. sich der Sichtweise der Männer in ihren Texten angleichen, wie zur Zeit Goethes Sophie von La Roche aus Kaufbeuren in ihrem Frauenroman “Das Fräulein von Sternheim“.

Ich verfolge, wie Frauen sich schreibend allmählich einen Platz neben dem Mann erstreiten, aber auch welchen Preis sie dafür zahlten, wie die Dichterin Günderode oder Virginia Woolf und Simone de Beauvoir und denke

 

das weibliche Gesicht der Welt

aufgetaucht aus Urzeiten

heute

dazwischen die Rolle der Frau

Muse Heilige Hure

verzaubert verbannt verbrannt

wieder auferstanden

wie Phönix aus der Asche

ohne Schweigen

heute

 

In der Geschichte erscheinen Frauen, die mir Vorbild sein können, mit ihrem Blick auf die Welt, ihrer menschlichen und künstlerischen Größe.

Das ist die Tür, hinter der ich antreffe, was ich suchte, einen Raum, in dem die Frauen ihre Würde wiederfinden, in dem sie nicht als Erynnien oder Furien herabgewürdigt werden, oder Medea ihre Kinder umbringen muss, ein Feld, das nicht von Helden wie Hektor und Achill besetzt ist.

Es ist nicht der Ort und nicht mehr die Zeit, in der der große Heilige Thomas von Aquin unwidersprochen schreiben kann: . . .die Frau ist ein Missgriff der Natur….eine Art verstümmelter, verfehlter, misslungener Mann.  

Missbrauchte Wörter!

Ich lese: Die Geschichte der Frauen, Band 1 - 5, von der Antike bis zum 21. Jahrhundert.

Shakespeare kommt später dran!

Ich habe gelernt zu lesen, ins Innere der Sätze vorzudringen, da wo die einzelnen Wörter nicht mehr wichtig sind.   

"Die Sprache verwandelt sich dann zurück in die Bild- und Fühlform ihres Ursprungs", sagt Herta Müller.

Seit einiger Zeit habe auch ich begonnen, dieses Mal nicht aus Langeweile sondern mit einer wiederentdeckten Neugier und Leidenschaft Wörter zu Sätzen zusammenzufügen, in Geschichten und Gedichten zu verbinden, ihre schillernde Bedeutung zu erkennen und damit zu jonglieren, wenn mir zwischen all den Büchern, deretwegen ich mein Haus bewohne noch Platz und Zeit bleibt.

Aber manchmal muss ich fliehen, wenn die Wörter anfangen mich zu verfolgen und mich zu erdrücken drohen.

Dann wirbeln sie in meinem Kopf und ich suche die Tür, hinaus in die blaue Stunde.